Der Sommer des Kometen
der Diener ihn einließ, und sie vergaß, wer weiß schon, warum, alle Vorsicht und flog direkt in seine Arme. So fand Lucias Mutter, die den Gast begrüßen wollte, ihre Tochter innig umschlungen von einem jungen Mann, mit dem sie nicht einmal verlobt war.
Bis dahin hatte er niemals mehr als ihre Hände geküsst, aber auch wenn es anders gewesen wäre, hätte Christian nie für möglich gehalten, was dann geschah.
«Hinaus», schrie die bisher gastfreundliche und stets beherrschte Frau. «Hinaus!»
Wütend riss sie ihre Tochter zurück und stieß ihn wie einen Dieb und Gotteslästerer vor sich her zur Tür. Christian stotterte Entschuldigungen, wollte erklären, beschwichtigen, aber sie gab ihm keine Gelegenheit, und er stolperte unter ihrem letzten Stoß auf die Straße.
«Wagt nie wieder, dieses Haus zu betreten! Niemals wieder! Bis in Gottes Ewigkeit.» Es war das Letzte, was er hörte, dann flog die Tür ins Schloss.
Natürlich hatte er tapfer geklopft, um Lucia in dieser Situation nicht alleinzulassen und um doch noch zu erklären, dass seine Absichten nur ehrbar, sogar äußerst ehrbar waren. Aber die Tür blieb verschlossen.
«Die Frau ist verrückt!»
Claes saß vor Empörung aufrecht, beide Hände auf die Oberschenkel gestemmt, auf der Stuhlkante. Einen Herrmanns auf diese Art vor die Tür zu setzen, das hatte noch niemand gewagt.
«Vielleicht ist sie das, vielleicht auch nicht. Ich kenne mich mit den Sorgen der Mütter nicht so aus. Aber wie kann sie nur denken, wir hätten etwas Unrechtes getan?»
Das konnte sich Claes sehr genau vorstellen, aber es war nun nicht der richtige Moment, darüber zu sprechen. Später allerdings musste er das dringend nachholen. Offenbar waren in Bergen die Sitten familiärer als in Hamburg.
«Und was sagt dein Freund Jeremy?», fragte er mit immer noch etwas lauter Stimme.
«Den lassen sie seither auch nicht mehr vor.»
«Gütiger Himmel! Und Thomas Matthew? Hat er als der ältere Bruder nicht versucht, zu vermitteln?»
«Das konnte er nicht.» Christian schüttelte den Kopf. «Thomas ist vorige Woche nach London und Bristol abgereist. Wegen der Flaute musste er mit der Kutsche nach Emden fahren, dort liegt die
Lady of the Severn.
Wahrscheinlich ist er jetzt schon mitten im Ärmelkanal. Er kommt frühestens in sechs Wochen zurück. Glaubst du, er wird sehr wütend sein?»
«Nein, das glaube ich nicht. Thomas ist kein Pharisäer, und außerdem liebt er jede Art von Drama.»
Claes stand energisch auf und griff nach seinem Rock.
«Dann werde ich mich darum kümmern. Es mag ja sein, dass du Madame Stedemühlens Zartgefühl sträflich verletzt hast, aber das muss sie mir doch erklären, warum eine Umarmung meines Sohnes in einer Diele, dazu am helllichten Nachmittag, gleich zu einem Hinauswurf für alle Zeiten führen muss.»
«Jemand ist hinausgeworfen worden? Wie interessant. Wer?»
«Anne.» Claes’ Stimme war gleich um einige Töne sanfter geworden. «Was tust du hier?»
«Ich suche dich, mein Lieber. Sonst bist du um diese Zeit längst da und verspottest meine Künste als Gärtnerin. Meine Bäume und ich haben uns gefragt, wo du wohl bleibst, und so bin ich dir entgegengegangen.»
Sie küsste ihn auf die Wange, ließ ihre Hand in der seinen und wandte sich lächelnd ihrem Stiefsohn zu.
«Christian, wie schön, dass du mitgekommen bist. Du bist ein wenig blass heute. Ich hoffe, es liegt nur an der Hitze?»
Christian nickte, und sie ersparte ihm weitere Fragen. Sie war fast so groß wie Claes, das blasse Gelb ihres Kleides und das weiße Brusttuch aus feinstem Lyoner Batist verstärkten die ziemlich undamenhafte Bräune ihres Teints, ein Ergebnis ihrer strikten Weigerung, bei der Gartenarbeit einen Hut zu tragen. Sie streckte Christian ihre freie Hand entgegen, und er küsste sie mit einem erleichterten Lächeln.
Als sein Vater ihm seine zweite Heirat ankündigte, hatte er sich um echte Freude bemüht. Seit dem Tod seiner Mutter waren ja schon einige Jahre vergangen, und natürlich war eine neue Ehe an der Zeit. Aber er hatte seine Mutter sehr geliebt, und ihr tragischer Tod bei einem Feuer in dem alten Gartenhaus in Hamm verfolgte ihn zuweilen immer noch in Albträumen. Er konnte sich gegen alle Vernunft keine andere auf ihrem Platz vorstellen und war ganz sicher, dass er – selbst bei großem Bemühen um Respekt – die neue Gattin seines Vaters immer als Feindin seiner Mutter empfinden würde.
Aber dann kehrte er nach Hamburg zurück und traf
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