Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer des Kometen

Der Sommer des Kometen

Titel: Der Sommer des Kometen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
wisse niemand so genau. Sie selbst denke dabei an einen der Pastoren, möge Gott sie alle beschützen. Blohm hingegen, dem die Spökenkiekerei der Leute aus den Marschen noch tief im Blut stecke, sei nun in großer Sorge, weil doch das Herrmanns’sche Gartenhaus wegen des kleinen Glockenturms über dem Tor von den Leuten auch Glockenhaus genannt werde.
    Von diesem törichten Geschwätz, dachte Anne fröstelnd, würde sie Claes ganz gewiss nichts erzählen.

3. Kapitel
    Donnerstag, den 12. Junius,
vormittags
    Rosina öffnete die Fenster und sah hinunter auf die Elbstraße. Wie schön wäre es, jetzt Zeit zu haben und zwischen all den Menschen dort unten herumzulaufen. Sie war zum ersten Mal in Altona, und die kleine Stadt an der Elbe machte sie neugierig. Sie hörte das Hämmern und Sägen von den Werften, Hufe klapperten über die hölzernen Vorsetzen, und Menschen riefen einander Worte zu, die sie kaum verstand. Die meisten Altonaer sprachen in ihrem Dialekt, dem Plattdeutschen, aber mit dem Stimmengewirr klang genauso viel Dänisch und Holländisch herauf. Auch ein paar französische, spanische und englische Brocken glaubte sie zu hören. Und vor der Tür des Kaffeehauses, direkt unter ihr, standen zwei Männer, offensichtlich ein Kapitän und sein Bootsmann, die sich mit tiefen Stimmen in einer Sprache unterhielten, die ihr noch fremder klang als das Plattdeutsche. Das musste Russisch sein. Sie warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das bunte Gewimmel und setzte sich an den Tisch.
    Nun blieb keine Zeit zu träumen. Sie griff nach der Feder, doch ihre Gedanken waren noch nicht bei dem Stück, dessen Manuskript vor ihr lag. Natürlich wäre es am besten, Claes Herrmanns um Hilfe zu bitten. Der war in Hamburg zu Hause und wurde gewiss in jedem Bürgerhaus mit Freuden empfangen. Der konnte leicht herausbekommen, ob dieses geheimnisvolle Stück überhaupt existierte und was tatsächlich mit dem Dichter geschehen war. Und Frau Augusta würde keine Scheu haben, sich in den feinen Salons dumm zu stellen, um alles zu erfahren, was sie wollte. Der Gedanke an die ungewöhnliche alte Dame mit den unpassend glänzenden Litzen an ihrer Witwenhaube machte Rosina lächeln. Frau Augusta hätte sie gerne besucht, und sie war sicher, dass Claes Herrmanns’ Tante ihr sogar verübeln würde, wenn sie nach dem gemeinsamen Abenteuer im letzten Jahr ihrem Haus so nah war und versäumte, bei ihr vorzusprechen.
    Aber ihr Neffe?
    Bürger vergaßen nie, das hatte sie gelernt, wer sie beleidigt oder benachteiligt, jedoch bald, wer ihnen geholfen hatte. Vor allem wenn es jemand wie sie war, ohne Bürgerrechte und mit dem Makel der Fahrenden behaftet. Zwar verweigerten die Pfarrer ihnen nicht mehr in jedem Kirchspiel den christlichen Segen zum Abschied von dieser Welt, aber immer noch wurde in den Häusern der Sesshaften und vor allem auf den Kanzeln vor ihnen gewarnt.
    Nun, sie hatte dieses Leben gewählt, und sie war damit zufrieden, auch wenn ihr Vater das niemals glauben würde. Selbst in Zeiten, meistens im Winter, wenn die Sehnsucht nach einem bequemen warmen Haus, aus dem sie niemand vertreiben konnte, wieder einmal groß wurde, wusste sie, dass sie ihren Beruf für die Erfüllung dieser Sehnsucht niemals aufgeben könnte. Das war nun ihr Leben, und so war es gut! Und sie musste endlich damit aufhören, von allen Bürgern immer das Gleiche zu erwarten wie von ihrem Vater.
    Energisch schnitt sie eine neue Feder zu und begann mit der Abschrift eines Schäferspiels, das die Becker’sche Gesellschaft aufführen wollte, sobald Rudolf in der nächsten Woche mit den Reparaturen an der Theaterscheune fertig war. Sie las den Text, summte leise die Lieder, und in ihrem Kopf entstanden bereits die Bilder der galanten Liebeskomödie. Das gehörte zu ihren Stärken. Schon bei der ersten Lektüre eines neuen Stücks sah sie Kostüme, Bewegungen, die ganze Inszenierung vor sich. Wenn Jean bei den Proben die Spielleitung übernahm, musste sie ihn nur ein klein wenig lenken, damit entstand, was sie sich vorgestellt hatte.
    Das war ein altes Spiel zwischen ihnen. Rosina schenkte Jean ihre lebendige und sehr konkrete Phantasie, und Jean, sonst stets ängstlich darauf bedacht, sich die Führung nicht aus den Händen nehmen zu lassen, akzeptierte dieses Geschenk. Am Schluss war er stets fest davon überzeugt, dass das, was schließlich dem Publikum präsentiert wurde, seine ganz eigene Schöpfung war. Rosina wiederum akzeptierte diesen kleinen

Weitere Kostenlose Bücher