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Der Sommer des Kometen

Der Sommer des Kometen

Titel: Der Sommer des Kometen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Tropfen und diese kleine Gratwanderung an der Grenze der ärztlichen Schweigepflicht geradezu geboten.
    Er begrüßte die beiden Komödianten rasch, aber ohne jede Herablassung, dann schritt er den anderen voraus durch das Tor und über die hölzerne Grabenbrücke in den weiten Hof. Das alte Gebäude, mit seinen vier Flügeln im Quadrat wie eine mittelalterliche Burg gebaut, ragte abweisend vor ihnen auf. Trotz der Hitze des Tages waren alle Fenster fest verschlossen. Auf der linken Seite gab es einen hübsch angelegten, aber menschenleeren Lustgarten, auf der rechten standen gegenüber dem Pastorenhaus einige langgestreckte neuere Gebäude. Aus dem Kamin des Backhauses in ihrem Schatten stieg kerzengerade eine dünne Rauchfahne. Die Anlage war mächtig, aber dass hier mehr als 900 Menschen lebten, erschien Rosina unvorstellbar.
    Der Wächter am Eingang des Haupthauses erkannte die beiden Ärzte und gab bereitwillig Auskunft.
    «Es tut mir leid», sagte Struensee zu Rosina und Sebastian, «aber wir müssen durch zwei Flügel dieses Fegefeuers gehen.»
    Der Wächter lächelte mit säuerlich schmalen Lippen und gab mit einer steifen Verbeugung den Weg frei.
    «Normalerweise werden zahlende Gäste in einem der neueren Flügel untergebracht», fuhr der Arzt fort, «aber es hat da in der letzten Woche ein kleines Feuer gegeben, keiner weiß, wie das geschehen konnte, und auch Billkamps Zimmer ist noch nicht wieder zu bewohnen. Deshalb ist er in einer der Grotten im hinteren Flügel untergebracht, bis er zurückkehren kann. Seid Ihr sicher, Rosina, dass Ihr uns begleiten wollt?»
    «Natürlich. Warum nicht? Fragt lieber Sebastian. Der ist jetzt schon ganz bleich.»
    «Das Wetter», murmelte Sebastian und beeilte sich, das Haus zu betreten.
    Rohding eilte an ihm vorbei, ein parfümiertes Tuch fest vor die Nase gepresst. Die Ausdünstungen der Kranken, die kaum jemals in den Genuss eines Bades kamen, der Gestank aus Nachtstühlen und aus den Betten, in denen sich stets zwei oder gar drei Kranke drängten, war infernalisch. Entsetzt starrte Rosina auf das Gewimmel der Irren, Versehrten und Fieberkranken, auf die Tollkoben an den hinteren Wänden der Säle – enge Holzverschläge, in denen Wütige angekettet lagen, sodass sie nur ihren Kopf durch eine kleine Öffnung in den Saal stecken konnten. Unwirsche Wächter warfen den Kranken Brotstücke zu wie Raubtieren. Sie wusste nicht, was schlimmer war: die erstickende Luft, der elende Anblick oder der unwirkliche Chor von Jammern und Geschrei, von Hämmern und Zetern, von allen Geräuschen, die Menschen in Not hervorbringen, wenn Vernunft, Zuversicht und Beherrschung verloren sind. Hier sollte einer wie Billkamp, reich und aus guter Familie, eingesperrt sein?
    Rohding eilte mit langen Schritten voran, als bemerke er nichts von dieser Hölle. Offenbar wusste er genau, wo Billkamp zu finden war. Er bog in einen anderen Gang ein, der größte Lärm und Gestank blieben endlich zurück. Die Luft war immer noch zum Schneiden dick und muffig, aber die großen Säle hatten sie nun hinter sich gelassen. Dieser Gang, erklärte Struensee, sei für die reicheren Patienten reserviert. Zelle reihte sich an Zelle, aber durch die Türen, die aus nichts als einem groben Eisengitter bestanden, sah Rosina, dass viele leer waren. Und in den Sälen, dachte Rosina, müssen sich zwei oder gar drei ein Bett teilen.
    «Hier ist es», sagte Rohding schließlich, «Nummer  26 . Er ist nicht da.»
    Er schob die unverschlossene Gittertür auf, und sie betraten den kleinen Raum. Rosina sah sich um. Die Zelle war nicht sehr groß, aber halbwegs sauber, und vor dem ebenfalls vergitterten Fenster sang eine Schwalbe. Das Bett in der hinteren Ecke war zerwühlt und roch säuerlich. Auf dem Tisch vor dem Fenster standen ein Tintenfass, eine Streusandbüchse und eine winzige weibliche Statue, deren Bedeutung Rosina nicht erkannte. Eine Wasserkaraffe und eine Schale mit grünen Äpfeln wirkten wie Boten aus einer anderen Welt. Auf einer angebissenen Frucht summte eine Wespe, eine zweite kroch müde über ein fleckiges Mundtuch. Auch drei tintenverklebte Federn und eine ganze Menge Papier lagen herum. Rosina hätte nichts lieber getan, als sich sofort auf die Suche zu machen, die Papiere zu durchstöbern und endlich dieses vermaledeite Stück zu finden. Mittlerweile war ihr schon egal, wovon es handelte, sie wollte es nur endlich haben.
    Offenbar teilte Rohding ihren Wunsch. Mit den Spitzen seines Zeigefingers

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