Der Sommer des Kometen
Betrug. Auch wenn sie ihren Prinzipal in allen anderen Dingen oft völlig respektlos behandelte, fühlte sie immer, auch nach all den Jahren noch, eine tiefe Dankbarkeit.
Wer weiß, was aus ihr geworden wäre, wenn er sie an jenem kalten Regentag nicht auf der Landstraße nach Leipzig aufgelesen und mit in den Gasthof genommen hätte, in dem seine Komödiantengesellschaft auf ihn wartete? Wie ein nasses Bündel zog er sie damals unter der Schlehenhecke hervor, ignorierte lachend ihre angstvolle Kratzbürstigkeit und setzte sie einfach vor sich auf seinen alten Klepper. Er hielt sie für einen Jungen, wegen ihrer feinen Samtkniehosen und des kunstvoll bestickten Hemdkragens für einen entlaufenen Pagen vom Altenburger Schloss oder einem der großen Herrenhäuser der Gegend. Er hatte nie gefragt, woher die Narbe stammte, die sich fast bis zum Kinn quer über ihre linke Wange zog, und bis heute hatte sie es weder ihm noch jemand anderem erzählt. Nicht einmal Helena, in der sie schnell eine liebevolle ältere Freundin gefunden hatte.
Auch ihre Herkunft war ihr Geheimnis geblieben. Aber das war unter fahrenden Komödianten nichts Besonderes. Gerade in diesen Jahren liefen ihnen viele junge Männer zu, deren bürgerliche Familien plötzlich verarmt waren, die an den Universitäten scheiterten oder von der großen Sehnsucht nach dem Abenteuer auf der Landstraße gepackt wurden. Wer sich einfügte und ein wenig deklamieren, tanzen, singen oder auch nur Kulissen und Kostümkisten schleppen konnte, war willkommen. Manchen von ihnen gelang nach ein paar turbulenten Wanderjahren die Rückkehr in ein bürgerliches Leben. Für eine Frau war das unmöglich.
«Hier bist du, Rosina, wir suchen dich überall! Du musst nun unbedingt helfen. Wir können uns nicht einigen, ob auf dieses Kostüm eine weiße Rüsche gehört oder eine aus Goldpapier.» Helena stand mitten im Zimmer, zerzaust wie immer und mit gerötetem Gesicht, und hielt in der einen Hand die Rüsche, in der anderen die Rolle mit dem glänzenden Papier hoch. Hinter ihr stand Gesine, mit ergebenem Gesicht, die Lippen schmal zusammengepresst und einen Weidenkorb mit Kostümen in den Armen.
«Das Kind ist viel zu jung für so viel Flitter», schimpfte sie und sah grimmig auf ihre Tochter, die sich geschickt an der Mutter vorbei in den Raum drängte.
«Das stimmt nicht», rief Manon aufgebracht. «Ich bin dreizehn Jahre alt …»
«Zwölf!!»
«Zwölf. Aber fast dreizehn Jahre alt. Immer nur die weißen Rüschen! Das ist so langweilig. Fritz ist ein Jahr jünger als ich, und er hat auch schon Goldlitzen auf seinem Kostüm.»
«Eben nur Litzen. Außerdem ist das etwas ganz anderes.»
«Wieso denn, Mutter?»
«Weil es so ist. Rosina, nun sag schon endlich was. Du bist doch vernünftig.»
Rosina bemühte sich, nur ganz leise zu seufzen. Sie verstand Manon, aber sie verstand auch Gesine. Noch im letzten Jahr hatte sich das Kind vor jeder Anprobe auf irgendeinem Baum verkrochen. Plötzlich, im letzten Winter, hatte sie dann die Lust vor dem Spiegel entdeckt. Von einem Tag auf den anderen war aus dem wilden Kind ein eitles kleines Fräulein geworden. Ausgerechnet Gesines Tochter. Niemand in der Becker’schen Komödiantengesellschaft hielt so auf Tugend wie Gesine. Und erst vor wenigen Tagen hatte sie Manon erwischt, als die sich gerade Rouge auf Wangen und Lippen strich, bevor sie auf den Markt ging, um Eier und Gemüse zu kaufen. Das Donnerwetter ihrer Mutter, Schminke sei für die Bühne und sonst nur für Hurenhäuser und Fürstenpaläste, war bis in die Gaststube des Kaffeehauses zu hören gewesen. Rudolf hatte sich vor Schreck darüber verschluckt, dass seine stille Frau, die denkbar strengste Hüterin der guten Sitten, solche Worte vor den Kindern in den Mund nahm.
Manon dagegen hatte die Strafpredigt gleichmütig und mit angemessen zur Schau getragener Zerknirschung über sich ergehen lassen und die Farbe brav wieder abgerieben. Das nächste Mal würde sie sich eben nicht erwischen lassen.
«Näht doch an die weißen Rüschen auch goldene Litzen», schlug Rosina nun vor. «Zu viel Gold macht nur blass, Manon, es sei denn, man hat Farben wie Helena.»
«Farben? Sprecht ihr von Farben? Das ist gut.»
Rudolf, Manons und Fritz’ Vater und geschickter Baumeister und Kulissenmaler der Truppe, drängte sich wie zuvor seine Tochter an seiner Frau vorbei ins Zimmer.
«Hübsch, das Gold. Das wird dir gut stehen, Manon. Findest du nicht auch, Gesine? Aber sag mir,
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