Der Sommer des Kometen
hinaus über den Fluss. In ihrem Kleid aus feinem, blass geblümtem Musselin erinnerte sie selbst an eine Heckenrose.
«Lucia?»
Das Mädchen sah lächelnd zu ihr auf, rückte mit einer einladenden Geste ein wenig zur Seite, und Gunda setzte sich neben sie. Mit den goldbraunen Locken über dem fast noch kindlich runden Gesicht glich sie niemandem in der Familie. Aber ihre Augen, dieser schräge, stets ein wenig erstaunte Blick, war ganz und gar der Blick ihres Vaters, als er noch jung gewesen war.
Sie hatte angenommen, Lucia würde traurig oder zornig sein, ihr Temperament war hin und wieder wenig damenhaft. Aber Lucia war ohne Zweifel einfach nur heiter, glücklich sogar, und von dem schlechten Gewissen, das ihre Mutter noch bei ihr zu finden erwartete, zeigte sie nicht die geringste Spur.
«Du bist blass, Mama», sagte das Mädchen, griff nach Gundas Hand und drückte sie liebevoll. «Und deine Hände sind eiskalt. Wie machst du das? Wenn du dafür ein Rezept hast, kannst du in diesen Tagen unermesslich reich werden.»
Gunda sah dieses Kind an, das längst eine junge Frau war, und musste, ob sie wollte oder nicht, lächeln. Lucia hatte etwas viel Besseres als ein Rezept für kalte Hände an heißen Tagen. Nur ein Lächeln, und egal, wie sehr man ihr zürnte, der Zorn schmolz im Handumdrehen und wich dem Wunsch, so heiter zu sein wie sie.
«Ich bin reich genug.» Gunda bemühte sich vergeblich um ein strenges Gesicht. «Obwohl ich mich manchmal frage, zu was das nütze ist. Heute zum Beispiel.»
Sie befreite sich sanft von den Händen ihrer Tochter und faltete die ihren wie gewöhnlich im Schoß.
«Machst du dir immer noch Sorgen wegen Christian, Mama? Das ist ganz und gar nicht nötig.» Die Grübchen in Lucias Wangen wurden tiefer. «Aber er ist doch sehr schön, findest du nicht?»
«Es ist gleichgültig, ob er schön oder hässlich ist. Du hast ihn umarmt, und wenn ich richtig gesehen habe, sogar geküsst. Ich will nicht wieder davon anfangen, was das zu bedeuten hat. Das habe ich dir in den letzten Tagen oft genug erklärt. Aber du musst endlich begreifen, dass es nie, ich sage es dir noch einmal und ganz klar, niemals eine Verbindung zwischen euch geben kann.»
«Ja, Mama. Das hast du gesagt.»
Es klang sehr kleinlaut, aber Gunda sah ihre Tochter misstrauisch an. Sie kannte Lucias Strategie, Ermahnungen und Verbote demütig entgegenzunehmen, nur um dann die Zeit für sich arbeiten zu lassen. Und das musste sie sich und ihrer Erziehung wirklich vorwerfen, es war eine äußerst erfolgreiche Strategie. Aber diesmal, dieses eine Mal, würde ihrer Tochter auch die Zeit nicht helfen. Gunda seufzte. Wären sie doch niemals von Bristol hierher zurückgekehrt! Hamburg oder Altona, das war schließlich fast das Gleiche. Wie hatte sie nur glauben können, sie würden einander niemals begegnen, die Stedemühlens und die Herrmanns. Aber konnte das Schicksal sie wirklich so strafen? Musste sie ihrer Tochter das Gleiche antun, was ihre Eltern ihr selbst angetan hatten?
«Ach, Mama. Warum machst du dir ständig Sorgen. Bin ich nicht immer eine gehorsame Tochter …?»
«Erzähl mir nichts von gehorsamer Tochter, Lucia. Du redest mit deiner Mutter. Nicht mit deinem dir völlig ergebenen Vater.»
«Aber ich würde nie etwas tun, was du nicht wünschst.»
«Du tust ständig Dinge, die ich nicht wünsche. Dinge, von denen ich glaubte, sie dir nicht extra verbieten zu müssen. Aber genug davon. Darüber haben wir gestern lange genug gestritten. Versprichst du mir, ihn nicht wieder zu treffen? Versprich es mir jetzt.»
Lucia zog die Nase kraus, und die kleine Falte, die dabei entstand, glich genau der über der Nase ihrer Mutter.
«Du hast mir immer gesagt, Gehorsam sei eine wichtige Tugend, Mama. Nun gut, auch wenn ich finde, dass sie vor allem eine schwere Tugend ist, will ich gerne zugestehen, dass sie auch wichtig sein mag. Obwohl ich längst nicht mehr zu jung bin, um eine eigene Meinung zu haben. Du hast mir auch gesagt, dass eine eigene Meinung sehr wichtig ist. Wie kann ich gehorsam sein und zugleich eine eigene Meinung haben? Was nützt eine eigene Meinung, wenn ich nicht nach ihr handeln darf?»
Gunda seufzte. Das hatte sie von ihrem Bemühen, ihre Kinder zu aufrechten Menschen zu erziehen. Vielleicht war es doch eher von Nachteil, jedenfalls für Mütter in ehrbaren Familien, auch die Töchter zu selbständigem Denken anzuhalten.
«Liebst du ihn wirklich so sehr?»
Wieder wurde die Nase kraus
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