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Der Sommer des Kometen

Der Sommer des Kometen

Titel: Der Sommer des Kometen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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diese Qual sich wie eine Decke über jene andere gelegt, die stetig darunter schwärte. Wie eine frische Wunde, die von einer älteren, tieferen, ablenkte. Wie ein neues Vergehen, das ein anderes übertreffen und damit nichtig machen sollte? Ein Beweis, dass er durch und durch verderbt und deshalb nicht verantwortlich für diesen ersten Betrug war? Egal, warum, es hatte nicht funktioniert. Ein Mensch blieb immer verantwortlich für seine Taten.
    Die Gesichter der Männer, die er nun wieder anstelle des friedvollen Himmels sah, die Schreie, die er hörte, die Schuld, die ihn marterte, wuchsen nicht aus den Erinnerungen an die Sklavenschiffe, an denen er verdient, die er aber nie betreten hatte.
    Wenn Gunda sagte, die Unruhe seines Gewissens habe ihn zuerst von Madeira und später aus Bristol fortgetrieben, irrte sie dennoch nicht. Wie sie mit allen diesen entsetzlichen Worten recht gehabt hatte. Aber von dem wahren Grund seiner Angst und Sehnsucht nach Gottes Strafe ahnte sie nichts. Zum ersten Mal wünschte er sich, er könnte ihr anvertrauen, womit er seinen Reichtum tatsächlich begründet und den Frieden seiner Seele zerstört hatte. Waren nicht alles Glück, jede friedvolle Minute seines Lebens, nach jenem Tag nur von ihr gekommen?
    Der Gedanke gab ihm Hoffnung, das Rauschen der panischen Erregung in seinem Kopf wurde leiser, er hörte den Uhu rufen, der über der Remise wohnte, und dann begann eine Nachtigall zu schlagen. Sie schluchzte, und es klang ein wenig rau.
    Montag, den 16. Junius,
vormittags
    Claes betrachtete nachdenklich seinen Sohn, der bleich und übernächtigt an seinem Tisch saß und so tat, als prüfe er die Preise eines Londoner Maklers. Sein Ärger über Christians nächtliche Eskapade in Stedemühlens Garten war schnell verflogen, und tatsächlich war dieser Ärger mehr aus väterlicher Pflicht als aus echter Empörung erwachsen. Christian hatte sein Versprechen, Lucia vier Wochen nicht zu treffen, gebrochen. Das war nicht gerade ehrenhaft, aber in einer warmen Sommernacht, das Herz voller Liebe und den Kopf voller Ärger über elterlichen Unverstand, wurden Versprechen dieser Art schnell dünn. Und hatte Gunda diesen Auftritt nicht verdient? Er hoffte nur, dass das Unwetter, das über Lucia gewiss hereinbrechen würde, nicht zu heftig war.
    Claes war bei Sonnenaufgang in Harvestehude erwacht und in den Garten gegangen, um als Morgengabe für Anne eine der großen tiefgelben Rosen mit dem lachsfarbenen Hauch am Rand der Blütenblätter zu schneiden. Die Rosenstöcke standen an der Südseite des Hauses, so verließ er es durch das Gartenzimmer, schritt über die Terrasse und stolperte über zwei ausgestreckte Beine. Christians Beine. Sein Sohn saß dösend auf der Bank hinter den Fliederbüschen, den Rücken an die Hauswand gelehnt, mit bleichem, erschöpften Gesicht und wirrem Haar. Bevor sein Vater nach der Ursache seines seltsamen Schlafplatzes und zerzausten Zustandes fragen konnte, beichtete er die Sünden der vergangenen Nacht, als habe er nur darauf gewartet, sie endlich loszuwerden. Dass er so dumm gewesen war, sich von dem Kapitän erwischen zu lassen, quälte ihn mindestens so sehr wie die Schuld des gebrochenen Versprechens.
    Nach seinem Zusammenstoß mit Lucias Vater war es ihm unmöglich gewesen zu schlafen. Zorn, Scham und Sorge um Lucia fochten in ihm einen heftigen Streit, und so jagte er über das freie Vorland an der Sternschanze vorbei nach Nordosten. Bei dem Holzsteg von der Eppendorfer auf die Winterhuder Seite lenkte er sein Pferd durch die Alsterfurt und galoppierte am Ufer den Leinpfad entlang weiter flussaufwärts, bis weiß schäumender Schweiß das Pferd bedeckte und sein Zorn sich zumindest etwas gelegt hatte. Er war erst gegen Morgen zurückgekehrt und, weil die Tore noch verschlossen waren, nicht zum Neuen Wandrahm, sondern zum Gartenhaus geritten.
    Nach dem Frühstück – die Rose für Anne hatte Claes völlig vergessen – ritten sie gemeinsam in die Stadt. Claes hatte gedacht, Christian würde seine gute Laune schnell wiederfinden, aber es schien, als werde er immer bedrückter.
    Nun ging es schon auf zehn, und Claes wunderte sich, dass noch kein Bote erschienen war, um einen gebührend empörten Brief des Kapitäns zu überbringen. Er konnte warten, und ganz gewiss würde er ohne Aufforderung nicht wieder in die Palmaille fahren, um sich für seinen Sohn zu entschuldigen. Es gab Wichtigeres zu tun.
    Er schob den Stuhl zurück und ging zum Fenster. Der

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