Der Sommer des Kometen
Himmel – in welchem Sommer hatten die Hamburger so häufig zum Himmel geblickt wie in diesem? – war auch heute Morgen von seltsam gelblichem Dunst verhangen, aber im Westen waren über Nacht Wolken aufgezogen. Sie hingen bleigrau über der Elbe, und auf den Märkten und am Hafen sprachen die Leute davon, dass nun bald Sturm aufziehen und Regen mitbringen müsse. Hoffentlich hatten sie recht. Er war diese drückende Schwüle Tag für Tag wirklich leid. Vielleicht war der Kometenbeschwörer heimlich ja doch ein Regenmacher.
«Christian?»
«Ja, Vater?»
«Nun mach nicht so ein schuldbewusstes Gesicht. Die Zeiten, in denen ich als dein Vater auch dein Richter war, sind vorbei, und glaube mir, ich bin sehr froh darüber. Und ich bin auch froh darüber, dass ich nicht mehr auf deine Schwester Sophie aufpassen muss. Seit sie verheiratet ist, sind meine Tage sehr viel ruhiger. Was ich damit sagen will: Ich kann Stedemühlens Zorn und Sorge verstehen, und wenn du ihm schreiben willst, um dich demütig zu entschuldigen, ist das nur recht und billig. Aber im Übrigen gibt es jetzt wichtigere Dinge auf der Welt als ein verbotenes Rendezvous. Hier ist ein Mord geschehen, vielleicht sogar zwei, und das muss geklärt werden.»
«Ja, Vater.»
«Himmel! Du bist wortkarg heute Morgen, äußerst wortkarg. Lucia ist nicht gestorben, ihre Eltern sind nur etwas seltsam, und mit ein wenig Glück wird sich alles regeln. Vertraue auf die Zeit. Und jetzt sage nur nicht wieder ‹Ja, Vater›. Leg die Feder hin, ich will mit dir noch einmal über Oswald sprechen.»
Christian öffnete den Mund, schloss ihn wieder, nickte und legte die Feder in die Schreibschale.
«Verdächtigst du ihn immer noch?»
«Nein, Christian, aber das heißt nicht, dass er freigesprochen ist. Die Nachbarin schwört, Oswald habe die ganze Nacht am Bett ihres sterbenden Mannes gewacht. Aber er könnte sie bezahlt haben, und ihr Mann ist tot. Ein ganz schlechter Zeuge. Vielleicht ist die Frau auch gegen Morgen eingeschlafen, und als sie erwachte, war Oswald schon wieder zurück. Das dürfte sie natürlich niemals zugeben. Am Sterbebett des eigenen Mannes schläft eine gute Ehefrau nicht ein, egal, wie erschöpft sie ist.»
«Das wäre auch ganz unmöglich. Von Oswalds Wohnung hinter der Steinstraße bis Albertus ist es weit, auch bei eiligem Gang wohl eine halbe Stunde. Das konnte er nicht riskieren. Und ein Mann, der um diese Zeit quer durch die ganze Stadt rennt, fällt allen auf. Die Straßen sind dann noch nicht gedrängt voll, aber wenigstens zur Zeit seines Rückwegs waren doch schon viele unterwegs.»
«Das stimmt. Natürlich. Und warum sollte Marburger sich um diese ungewöhnliche Zeit allein und ausgerechnet mit Oswald, den er nach dem Auftritt im Kaffeehaus doch fürchten muss, auf einer der Bastionen verabreden? Andererseits, wenn seine Nachbarin gelogen hat, könnte er Marburger die ganze Nacht verfolgt und auf eine günstige Gelegenheit gewartet haben, um ihn zu erschlagen.»
«Dann müsste der Zuckerbäcker sich auch die ganze Nacht irgendwo anders als in seinem Bett aufgehalten haben. Hast du gestern herausbekommen, wo er vor dem Mord war?»
Claes schüttelte den Kopf. Er hatte inzwischen Marburgers Frau besucht, sie seines Beileids versichert und so diskret wie möglich ausgehorcht. Sie war eine zierliche Frau mit einem trotz ihrer mehr als vierzig Jahre mädchenhaft runden Gesicht und erstaunlich freundlichen Augen. Noch erstaunlicher fand Claes, dass ihre Trauer tief und echt war. Die Liebe ging wirklich seltsame Wege. Sie wusste nur, dass ihr Mann am Abend mit ihr zu Bett gegangen und schnell eingeschlafen war. Wann er das Bett und das Haus verlassen hatte, wusste sie nicht. Sie hatte es nicht bemerkt, denn, so versicherte sie, ihr Schlaf war stets tief und gesund, ganz besonders gegen Morgen. Auch die Dienstboten, sie hatte sie schon selbst danach gefragt, wussten nichts von nächtlichen Geräuschen auf der Treppe oder an den Türen.
«Obwohl Marburger so ein polteriger schwerer Kerl war?» Christian zog skeptisch die Brauen hoch. «Und wenn Oswald ihm gefolgt wäre, Vater, dann hätte er die ganze Nacht die Zuckerhutform mit sich herumschleppen müssen. Oder glaubst du, dass der Mörder sie zufällig unter der Bank auf Albertus gefunden und zum Spaß mit Blut beschmiert hat?» Die Sache mit der Zuckerhutform hatte Claes nicht bedacht. Natürlich schleppte niemand eine ganze Nacht so ein unhandliches Ding mit sich herum. Sehr
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