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Der Sommer des Kometen

Der Sommer des Kometen

Titel: Der Sommer des Kometen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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darin herumzustöbern. Sie musste erst seine Gewohnheiten kennenlernen, bevor sie sich unbemerkt hineinschleichen konnte.
    Aber da waren ja nicht nur die Papiere, da waren noch die mehr als dreißig Zuckerknechte und Lehrlinge, die in der Kocherei, den Abfüll- und Trockenkammern, im Zuckerlager und an den Seilwinden arbeiteten. Vielleicht wussten sie nicht viel, aber auf alle Fälle mehr als sie selbst. Egal, was Claes Herrmanns sagte oder befürchtete, sie musste in die Siederei. Die Tür ging auf, und Pagerian trat ein, ein Bündel mit Listen und Briefen unter dem Arm, die der neue Hilfsschreiber in seiner akkuraten zierlichen Schrift sauber kopieren und zur Post bringen sollte.
    «Natürlich», dienerte Rosina, «unverzüglich», und hoffte, dass sie die richtigen Briefe in die jeweils richtige Poststation bringen würde. Dann hatte sie eine Idee.
    «Monsieur Pagerian, verzeiht, Eure Zeit ist kostbar und knapp bemessen, aber ich habe eine Bitte.»
    «Fragt nur, Mylau, immer heraus damit.»
    Es konnte nicht schaden, einem Verwandten von Claes Herrmanns’ Freunden großzügig entgegenzukommen, auch wenn er nur einer sächsischen Nebenlinie entstammte und im dritten, oder war es gar im vierten Grad?, verschwägert war.
    «Ich bin so dankbar, dass ich diese wichtige Erfahrung in Eurem Kontor sammeln darf, es wird gewiss für mein weiteres Leben von außerordentlicher Bedeutung sein, und der Zuckerhandel», sie sah ihn aus großen Augen ehrfürchtig an, «galt mir schon immer als der bedeutendste.»
    «Sehr klug, mein Sohn», schnurrte Pagerian und hob anerkennend den Zeigefinger, «sehr verständig. Er ist in der Tat der gesunde Boden unseres Wohlstandes.»
    «Ja. Wie Ihr es sagt. Gewiss werdet Ihr mir dann einen großen Wunsch erfüllen, der meine Bildung befördern soll. Es drängt mich, nicht nur das Kontor, sondern auch all die anderen Bereiche Eurer verdienstvollen Arbeit kennenzulernen. Könntet Ihr mich durch die Zuckerbäckerei führen und mir erklären, wie der Zucker raffiniert wird? Es ist doch auch von Nutzen für meine Arbeit in Eurem Kontor», fügte sie hastig hinzu, «ich verstehe alles viel besser, wenn ich weiß, wie die Arbeit versehen wird.»
    «Löblich. Sehr löblich. Ich sage immer: Nur das Ganze bringt den Erfolg.»
    Das erinnerte Rosina an einen anderen dicken kleinen Mann. Sie strahlte ihn dankbar an und vergaß fast, dass sie gerade nicht die Rolle eines Mädchens spielte.
    «Jetzt gleich?», bat sie und gab darauf acht, dass ihre Stimme nicht wieder in ihre natürliche, etwas höhere Tonlage glitt. «Könnten wir gleich gehen? Ich bin so begierig, alles von Euch zu lernen.»
    «Nun gut», Pagerian zögerte nur so lange, wie es für einen mit Verantwortung überlasteten Mann schicklich war, «verschließt die Tür zur Straße, dann können wir gehen.»
    Sie schritten durch die große Diele, und der süße, brandige Geruch, der selbst das Kontor beherrschte, wurde immer stärker. Pagerian öffnete die Tür, und Rosina, die gedacht hatte, es sei schon im Kontor stickig gewesen, betrat die backofenheiße Siederei, die fast das ganze Erdgeschoss einnahm. Zuerst ließ Pagerian sie jedoch einen Blick in das hintere Lager mit der Luke zur Kleinen Alster werfen. Der hoch aufgeschüttete Rohzucker glänzte matt in allen Schattierungen von gelb über hell- bis schwarzbraun, er kam aus Manila, Surinam, den karibischen oder brasilianischen Kolonien. Der von San Domingo war der dunkelste und der von Java, der feinste, schon fast weiß. Auf den Plantagen, erklärte Pagerian stolz, als habe nicht eine Vielzahl afrikanischer Sklaven, sondern er persönlich in tropischer Hitze das harte Rohr geschnitten und verarbeitet, werde der Zuckersaft aus dem Rohr gepresst und vorraffiniert. Aber für die verfeinerte europäische Zunge, so sagte er, werde er erst in diesen Kammern genießbar gemacht. Dabei schnalzte er genüsslich und zog Rosina zurück zu den Siedepfannen. Die Hitze erschien ihr unerträglich, wie hielten die Knechte das nur aus?
    Die Jungen und Männer schienen sie nicht zu beachten. Ihre Arbeit erforderte große Kraft und der Umgang mit dem siedenden Zucker höchste Aufmerksamkeit. Sie riefen sich Worte zu, auch Sätze, kurz und knapp, aber Rosina wusste nicht, ob das freche Scherze über die seltenen Besucher, Befehle oder einfach Schwätzereien waren. Sie verstand die Männer nicht. Der Hamburger Dialekt war viel mehr eine eigene Sprache als das Sächsische ihrer Heimat. Das würde es schwer

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