Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
mit den Windeln des Nachwuchses sein Dasein bestreitet. Ich konnte ihr nicht ins Gesicht schreien, wie verraten ich mich von ihr fühlte, weil sie sich von mir distanzierte. Nachher, als alles vorüber war, verfiel sie wieder in eine alltägliche Freundlichkeit, die ich nicht mehr ertragen konnte. Sie tat einfach so, als sei nichts vorgefallen. Nach der Entlassung aus dem Spital hatte ich im Laufe von drei Monaten zehn Kilogramm abgenommen, ohne dass es jemand bemerkt hätte, ich trug ohnehin nur weite Hosen und Pullover. Mutter habe ich nicht erzählt, dass ich das Essen heimlich erbrach und das Schulbrot verschenkte, dass ich das Joghurt mit Marmelade und Früchten, das sie mir abends bereitstellte, unter dem Vorwand ins Zimmer mitnahm, ich wolle noch arbeiten und es dabei essen. In der Nacht habe ich es dann die Toilette hinuntergespült. Ich redete kaum mehr mit ihr, gab kurz Antwort, wenn sie mich etwas fragte, und versuchte, mich in meinem Zimmer zu verschanzen, das sie nur selten betrat. Nach der Zeit in Südengland, wo ich Arbeit auf einer Pferdefarm in der Nähe von Southampton fand, begann ich ein Wirtschaftsstudium in Graz, das ich kurz vor Ende abbrach, um eine Arbeit in einem Personalbüro anzunehmen. Ich wollte endlich Geld verdienen und hoffte, ich könnte nebenher die letzten Studiensemester abschließen. Einige Jahre später ging ich nach Berlin, wo ich eine Schneiderlehre bei meiner Freundin Anna absolvierte. Seit Jahren wohne ich hier in London und bin froh über den Abstand zu Mutter. Einmal im Jahr sehen wir uns, selten öfter, außer es gibt besondere Anlässe, wie Mutters Hochzeitsfeier mit Alexander oder ihren Besuch hier zur Geburt der Zwillinge. Es ist für uns beide schwierig, die alten Geschichten nicht zu erwähnen, und manchmal knistert die Luft von unausgesprochenen Vorwürfen.
In den letzten Jahren habe ich versucht, Mutter besser zu verstehen, und die Geschichte ihrer und letztendlich auch meiner Familie kommt mir vor wie die Chronik eines schleichenden Verlusts, angefangen mit dem Tod ihrer Eltern, über den sie nie sprach, ich vermute, sie vermied es, um nicht hemmungslos losweinen zu müssen. Den unerwartet frühen Tod meines Vaters, ihres Ehemanns, hat sie auch nicht verwunden, selbst wenn ich das früher immer geglaubt hatte. Das schwierige Verhältnis zu mir hat ihr das Leben sicherlich nicht einfacher gemacht. Sie bewahrte immer Haltung, was für mich in manchen Situationen unerträglich war, hätte ich ihr doch gerne bereits als kleines Mädchen, wenn sie traurig war, zum Trost einen Kuss auf die Wange gedrückt. Das gelang mir nur selten, weil sie rasch wieder zur Tagesordnung überging, sich wegdrehte und mit gefasster Stimme etwas von sich gab, das ablenken sollte. »Ach, lass die alten Geschichten« oder »Tote soll man ruhen lassen«. Auch später, als ich längst erwachsen war, konnte ich ihr nicht sagen, dass ich mir vorstellen konnte, wie sehr sie ihre Eltern vermisst haben musste, denn unweigerlich wäre Vaters Tod und meine Sehnsucht nach ihm ins Spiel gekommen, und wenn ich etwas in diese Richtung auch nur andeutete, hätte das in Mutters Ohren wie ein Vorwurf geklungen. Vielleicht können wir uns diesmal erzählen, was uns in all den Jahren, in denen wir uns manchmal, wenn wir uns sahen, fast bis zur Gewalttätigkeit streiten konnten, umgetrieben hat.
Mutter hatte keine einfache Kindheit. Als Zwölfjährige war sie Vollwaise, dann folgte der Umzug zu Tante Else und Onkel Heinrich nach Wien, beide keine herzlichen Menschen, sondern, soweit ich mich an sie erinnern kann, kompliziert im Umgang, unsicher in ihren Gesten, ein extremes Wechselspiel zwischen freundschaftlichem Plauderton und Befehl, unterstrichen durch die nasale Aussprache des Herrn Kanzleirates, der sich einiges auf seinen gesellschaftlichen Aufstieg und den bürgerlichen Wohlstand einbildete. Ganz zu schweigen von Tante Else mit ihrer piepsenden Stimme, deren Tonlage mit dem Alter jeglicher Boden verlorengegangen war. Ihre Gewohnheit, sich mit Dekor und kleinsten Kleinigkeiten zu beschäftigen, war mir bereits als Kind aufgefallen, auch empfand ich damals Ekel vor ihrem aufdringlichen Nelkenparfum. Ihr Sohn, der ebenfalls den Namen Heinrich trug, war im zweiten Lebensjahr an einer Lungenentzündung gestorben, und sie hatten keine weiteren Kinder mehr bekommen. Heute glaube ich, Tante Else wollte mit der Aufnahme von Mutter ihre eigene Kinderlosigkeit kaschieren, so als ob ein Makel daran haftete,
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