Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Buchenstücken den Ofen nach. Das Poltern der Scheite klang in Maxens Ohren vertraut, es erinnerte ihn an den Vater, der sonst am Abend vor dem Zubettgehen das letzte Holz für die Nacht nachgelegt hatte. Im Hof stapelten sich die Scheite der jahrhunderte alten Buche, die Vater im letzten Januar gemeinsam mit dem Koglerbauern gefällt und zersägt hatte. Der alte Baum war im Sommer davor von einem Blitz getroffen worden. Wenn die Scheite im gusseisernen Ofen knisterten, stellte Max sich vor, was sie aus der Zeit erzählen würden, lange bevor Großvater geboren worden war, und was sie in den vergangenen Zeiten, in denen sie gewachsen waren, alles gesehen hatten. Dann erblickte Max Bilder von Männern auf stattlichen Pferden, die mit ihren scheppernden Rüstungen Richtung Oberkapfenberg ritten. Großvater hatte ihm oft Geschichten von Kreuzfahrern und Burgfräuleins erzählt. Im letzten Sommer waren sie gemeinsam in der Burgruine herumgeklettert, von dort konnte man hinauf ins Mürztal, über die Dächer der Werkhallen hinweg bis hinein zur Rettenwand, und hinüber zur Mugel, dem Brucker Hausberg, blicken. Sie hatten den Eingang zum sagenumwobenen Tunnel gesucht, den das Geschlecht der Stubenberger, für den Fall einer Belagerung, bis zum Schloss Wieden im Tal unten gegraben haben soll. Gefunden hatten sie nichts, aber allein das Abenteuer des Suchens hatte Max in seiner Vorstellung mitten in die Zeit hineinversetzt, als die Burg noch voller Leben war. Max berührte das Weidengeflecht des Fischkorbs, den er unter die Decke geschmuggelt hatte, mit einer Hand, während er mit der anderen eine Ecke des Kopfkissens fest umklammert hielt. Seine Zunge leckte über die salzig verklebten Lippen.
London Juni 2011
Im Schlafzimmer habe ich die Kleider für das Wochenende in Bergen-Enkheim auf dem Bett ausgelegt. Der kleine Koffer, den ich aus der Abstellkammer geholt habe, wird nicht ausreichen für die wattierte Lederjacke und den Hut, den ich wegen des vorhergesagten schlechten Wetters mitnehmen möchte. Früher war es selbstverständlich gewesen, auf Reisen mehrere Hüte dabeizuhaben, doch dieses Kleidungsstück ist aus der Mode gekommen. Mutter hat nie Hüte getragen, doch Vater hatte eine stattliche Anzahl auf der obersten Ablage seines Schranks gestapelt. Über die Jahre habe ich Hüte gesammelt, wenn ich auf einem Flohmarkt oder bei Freunden ein ausrangiertes Stück gefunden habe. Dieser Sammeltrieb hat mir, bevor wir in die Fabrik gezogen sind, hin und wieder ein schlechtes Gewissen verursacht, weil sich in unserer kleinen Wohnung in Whitechapel kein Platz mehr fand. Zahlreiche Strohhüte für den Sommer türmen sich inzwischen in meinem Atelier, zudem alle möglichen Modelle für Herren, für die Jagd oder für Regen, einige Zylinder und ein paar hübsche, altmodische Damenhüte aus Stoff, Bast oder Filz. Wenn ich mehr Zeit habe, werde ich sie reparieren und bei meinen Modenschauen verwenden. Als ich von zu Hause wegging, habe ich Vaters alten zusammenrollbaren Berghut in meinen Rucksack gepackt. Mit ihm hat meine Leidenschaft, Kopfbedeckungen zu sammeln, begonnen. Es war für mich damals mit neunzehn Jahren nicht einfach gewesen, den Abschiedsbrief auf den Küchentisch zu legen, die kleine Zweizimmerwohnung zu verlassen und nach England zu fahren. Das Land und die Sprache zogen mich an, und ich wollte mich dort einige Monate mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Den Plan dazu hatte ich bereits länger gefasst, er hatte mir Hoffnung gegeben, eines Tages aus der Enge, die ich in der Gegenwart von Mutter empfand, auszubrechen, doch immer wenn das Zusammenleben mit ihr erträglicher war, hatte ich ihn wieder verworfen und wollte lieber meine Volljährigkeit abwarten. Nach Vaters Tod und nach der Abtreibung, zu der mich Mutter zwei Jahre später gezwungen hatte, wollte ich einfach nur weg. Seit damals hatte ich einen Klumpen im Hals, der immer größer wurde und mich zu ersticken drohte. Mutter ihrerseits sah sich als Opfer, war von ihrer Tochter abgrundtief enttäuscht, denn ich, die dumme Gans, wie sie mich nannte, war mit siebzehn von Axel, dem Bruder meiner Freundin Klara, schwanger geworden. Mutter hatte mich durch ihr verachtendes Schweigen in die Enge getrieben, bis ich mich entschloss, das Kind wegmachen zu lassen. Ich wusste nicht, wie ich mich dagegen zur Wehr setzen konnte, obwohl ich überzeugt war, Schuld auf mich zu laden. Aus mir sollte eine unabhängige Frau werden und nicht ein junges Ding, das im Kampf
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