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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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vor, er war früher Ingenieur und hat sich um Staumauern und Beton gekümmert. Ich versuchte, ihm zu erklären, warum mich diese Darstellung abschreckt, als Bild einer zukünftigen Welt, die kontrollierbar zu sein scheint, leicht instand zu halten und gleichförmig. Wenn ich mir in solchen Momenten die Zukunft vorzustellen versuche, bin ich froh, alldem nicht mehr allzu lange zusehen zu müssen. Mir scheint die Begrenztheit meiner Tage als Trost, auch wenn ich noch gerne lebe, trotz der Beschwerlichkeiten. Allerdings nur, solange die Zumutungen des Alltags nicht zu groß werden und ich mich nicht ständig selber dabei beobachte, wie mein Bewegungsradius sich zunehmend einschränkt. Vielleicht bin ich durch die Mühen, meinen Körper funktionstüchtig zu halten, inzwischen selbstbezogen geworden. Manchmal bin ich überempfindlich, wahrscheinlich schon immer gewesen. Gerüche gehen mir schnell auf die Nerven, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bekomme Kopfschmerzen, obwohl ich die sonst nicht kenne. Diese altmodischen Unpässlichkeiten mancher Damen, die damit ihren Rückzug sichern, damit habe ich nie etwas zu tun gehabt, ich konnte mir solche Allüren gar nicht leisten und wollte auch nie als die Leidende dastehen. Es riecht hier im Abteil wieder grässlich. Eine der jungen Frauen hat sich die aufgesteckte Frisur mit Taft besprüht und eines von den neumodischen Parfums aufgetragen, die ich seit ein paar Jahren an den Frauen ab dem Teenageralter bemerkt habe. Dass die Männer solchen ordinären Gestank anziehend finden, will nicht in meinen Kopf hinein. Ich kann nicht einfach das Abteil wechseln, mit dem Rollstuhl muss ich hier stehen bleiben. Manchmal vergesse ich meine Abhängigkeit, aber in Situationen wie dieser Bahnfahrt, ohne Begleitung von jemand Vertrautem, wird mir das bewusst. Dann fühle ich mich alt und allein.
    Ich hatte mir damals, als ich nach England zu Lena unterwegs war, kurz überlegt, ob ich ein paar Tage früher nach Frankfurt fahren sollte, um Enkheim zu besuchen, aber irgendwas hat mich daran gehindert. Es fällt mir schwer, Bergen-Enkheim zu sagen, denn damals, als ich hier weggegangen bin, hatten die beiden Ortschaften noch nicht zusammengehört. Oft war ich Onkel Heinrich und Tante Else dankbar, weil sie mich davor bewahrt hatten, in Hessen in ein Kinderheim gesteckt zu werden, als sie mich in ihre große Altbauwohnung in Wien aufnahmen, mit einem eigenen Zimmer und Blick auf das Belvedere. Heinrich war nur entfernt mit uns verwandt und er war ein paar Jahre jünger als Vater gewesen. Irgendwann kurz nach dem Ersten Krieg ist er nach Österreich ausgewandert, um seine Verlobte, die aus einer wohlhabenden Familie stammte, zu heiraten. Ich erinnere mich an seine Besuche in Enkheim und an die Geschenke, die er mir mitbrachte, die Farbstifte und das Kaleidoskop oder den Guckkasten mit den verschiedenen Ansichten der Städte Europas. Ich sehe die Bilder dieser Sehenswürdigkeiten vor mir, als würde ich geradewegs durch ein Guckloch sehen, den Eiffelturm, die Akropolis, das Kolosseum, sie alle haben sich unauslöschlich in mein Kinderhirn eingegraben, und es war eigenartig ernüchternd, all diese Bauten dann auf den Reisen mit Alexander in natura zu sehen. Zuerst habe ich mich gefreut wie ein kleines Mädchen, und dann war da eine leise Enttäuschung, weil die Sehnsucht, die ich mehr als sechzig Jahre mit mir herumgetragen hatte, in sich zusammengefallen war. Übrig blieben die alltägliche Hektik, der Lärm und das Gedränge in den Gassen und Straßen von Athen, Paris und Rom.
    Den plötzlichen Tod meiner Mutter wollte ich nicht wahrhaben und so führte ich auch Jahre danach meine allabendlichen Zwiegespräche mit ihr. Ich konnte damals nicht trauern, denn in meiner Wahrnehmung war Mutter noch immer da, sie war nicht gealtert, sondern die zarte Frau im blauen Kleid geblieben, so wie ich sie gekannt hatte. Ich habe keine Andenken mehr an Mutter, nur den Perlmuttanhänger mit der ziselierten Silbereinfassung, den ich an meinen Toilettenspiegel gehängt habe, damit ich ihn jeden Tag sehe, und das kleine, unfertige Wandbild mit dem Motiv einer lesenden Frau, das sie bereits vor ihrem Sanatoriumsaufenthalt zu sticken angefangen hatte. Mutter hat Vater nur um ein paar Monate überlebt. Ab dieser Zeit wohnte ich bei Frieda, meiner Tante, sie hat mich vorübergehend in ihrem winzigen Haus aufgenommen, obwohl der Platz für sie, ihren Mann und die sieben Kinder knapp bemessen war. Ich vermute, dass sie

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