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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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eisig kalt, Max hörte den Wind um das Haus streichen. Ein Haken der geöffneten Holzläden hatte sich aus der Verankerung gelöst und baumelte quietschend unterhalb des Fensterbretts. Am Morgen des Vortages waren die Männer ausgerückt. Max fror, er zog die Decke bis zu den Ohren hoch, und versuchte, sich die Stimme des Großvaters vorzustellen, so wie er sie zuletzt gehört hatte, als er über die Kreuzzüge oder die Dolomiten erzählte. Das war noch am vorigen Sonntag gewesen, im Sechserhaus, dort wo die Großmutter jetzt ihre grauen Haare mit einem schwarzen Kopftuch bedeckte. Sie betete den Rosenkranz, nachdem flüchtende Schutzbündler berichtet hatten, der Großvater sei drüben in Bruck erschossen worden. Der Graber hatte erzählt, den Großvater sei vor dem Gendarmerieposten von einer Kugel mitten ins Herz getroffen worden und gleich tot gewesen, doch sie hätten seine Leiche erst nach Stunden von der Straße wegschleppen können. Der Hinterhauser hatte gesagt, den Großvater habe es bei der Forstschule draußen erwischt, er sei über Stunden mit einem Bauchschuss vor dem Zaun liegen geblieben und elend verblutet. Max hatte all dem ungläubig zugehört, hatte nicht glauben wollen, was berichtet worden war und gewartet, dass der Großvater bei der Tür hereinkommen würde, unverwundet und stolz, weil er mit seinem Trupp die Gendarmerie in die Flucht geschlagen hatte. Den ganzen Nachmittag waren die Mutter und Max bei der Großmutter im Wohnzimmer gesessen, hatten die Beileidswünsche der Nachbarinnen entgegengenommen und auf Neuigkeiten gewartet. Dann am Abend hatte endlich ein junger Mann an die Tür geklopft, hatte außer Atem von der Flucht von zweihundert Männern unter dem Kommando von Arbeiterführer Wallisch über die Berge Richtung Jugoslawien erzählt, der Vater sei auch dabei. Wenn die Gendarmerie oder das Bundesheer sie erwischen würden, bedeutete das vor allem für die Anführer den sicheren Tod am Galgen. Im Theatersaal in Bruck hätte die Gendarmerie unzählige Schutzbündler festgesetzt. Gekämpft hätten alle wie die Löwen, der Schlossberg sei vom Bundesheer beschossen worden, es sehe dort aus wie nach einem richtigen Krieg, das Spital sei voll mit Verletzten. Einige Männer seien tot, er wisse nicht genau wer und wie viele es seien.
    Die Mutter und er konnten nichts tun als auf weitere Meldungen warten, die von jemandem kommen würden, der vielleicht in Bruck, in Leoben oder in Graz etwas gehört hatte. Sie saß neben dem Ofen und strickte, der Vater hatte bei ihr eine grüne Weste mit Zopfmuster bestellt, die er unter seinem braunen, groben Wollsakko tragen wollte. Das Garn stammte von einem aufgetrennten Bettüberwurf, den sie vom Koglerbauern geschenkt bekommen hatte. Max konnte vom Sofa aus die Falten um ihre Augen sehen, manchmal neigte sie ihren Kopf zur Seite, und er hatte den Eindruck, als sei sie kurz davor einzuschlafen. Er wusste, dass sie darauf wartete, jeden Moment mit ihm und Edgar fliehen zu müssen, wenn die Gendarmerie das Haus durchsuchen würde. Auch die anderen Frauen aus der Nachbarschaft hielten sich bereit, wollten aber auf ihre Männer warten oder auf weitere Nachrichten. Die Frauen hatten die überzähligen Waffen und die Munition aus dem Keller geholt, hinunter zum Bach geschleppt und dort alles in einer Kiste im Sand der Uferböschung unter der Holzbrücke vergraben. Niemand würde das Versteck finden, außer es würde verraten werden. Aber von Max erfuhr niemand etwas, nicht einmal Otto, denn es hieß, dessen Vater hätte den Nationalsozialisten im Werk von dem geplanten Streik berichtet, weil er sie in seiner Naivität zum Mitmachen überreden wollte. Während den Versammlungen der Schutzbündler in den letzten Tagen hatte Maxens Vater klar wiederholt »Zu niemandem außerhalb der Gruppe ein Wort!«
    Im Radio wurde gesagt, die Situation sei unter Kontrolle, der Aufstand der Schutzbündler im Arbeiterheim in Linz und auch der in Bruck bei der Gendarmeriekaserne sei niedergeschlagen worden. Die Mutter hatte das Radio ausgeschaltet, die Marschmusik war nicht mehr zu ertragen gewesen. Den Apparat hatte der Vater aus Wien mitgebracht, wo er an einem Montagekurs teilgenommen hatte, um für die Nachbarn und Freunde, die sich keinen leisten konnten, weitere bauen zu können. Der Vater hatte immer gesagt, es sei wichtig, dass die Arbeiter ihren eigenen Sender damit unterstützten und nicht nur die Nachrichten der Regierung hörten. Die Mutter heizte in der Küche mit

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