Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
nicht nachzuvollziehen gewesen. Ich hatte diese Zugehörigkeit als Makel empfunden, der damit verbunden war, zu wenig Geld zu haben. Meine Eltern lebten sparsam, und die Anschaffung des Fernsehers war nur zustande gekommen, weil ich Vater lange damit in den Ohren gelegen war und ihm letztendlich weismachen konnte, er würde seine politischen Informationen schneller erhalten, wenn er jeden Tag die neuesten Nachrichten im Fernsehen mitverfolgen könne. Das war ungefähr ein Jahr vor seinem Unfall. Wir haben dann gemeinsam die Sendung »Zeit im Bild« angesehen, das entwickelte sich zu einem festen Familienritual. Noch wenige Monate davor hatten sich die Erwachsenen regelmäßig im Hof getroffen, hatten sich unterhalten, Karten gespielt oder gemeinsam gegessen, und die Kinder waren bis spät im Freien unterwegs gewesen. Dann als die meisten einen Fernsehapparat in ihren Wohnzimmern stehen hatten, verschwanden die Kinder am frühen Abend in den Wohnungen, um Vorabendserien wie Lassie anzusehen, über die sie sich am nächsten Tag in der Schule mit ihren Kameraden austauschten. Nach seinem Unfall sagte Vater, er würde die schlechten Nachrichten kaum mehr ertragen, die kapitalistische Welt sei dabei, sich selbst aufzufressen. Wenn ich ihn manchmal für eine interessante Sendung ins Wohnzimmer holen wollte, wehrte er nur ab und sagte, lieber würde er weiterlesen. Doch ich wusste, er las nicht, sondern starrte die meiste Zeit an die Decke. Damals bemerkte ich, wie Vater sich zurückzuziehen begann. Einmal hatten Nachbarn im Hinterhof eine lange Tafel aus Brettern und Holzkisten errichtet. Die Frauen hatten Leintücher darübergebreitet und in Milchflaschen Gartenblumen daraufgestellt. Vater hatte von seinem Patz am Balkon aus, wo er inzwischen die meiste Zeit zubrachte, nachdenklich zugesehen und aus seiner Kindheit in Kapfenberg erzählt, wo die Bewohner des Arbeiterhauses in den warmen Monaten Hochzeiten, Taufen und Geburtstage im Hof zwischen den Holzhütten und den Gemüsegärten gefeiert und zwei Männer mit Geige und Ziehharmonika zum Tanz aufgespielt hatten. Vater sagte, er würde sich danach sehnen, ganz selbstverständlich mitten unter den Leuten zu sitzen, und mit einem Mal hatte ich seine Resignation bemerkt. Er hielt den Lärm nicht mehr aus, konnte sich mit niemandem auf ein längeres Gespräch einlassen, seine Gedanken schweiften ab, und er stellte nach einer Zeit fahrig zusammenhanglose Fragen, deren Antworten ihn nicht zu interessieren schienen und die er auch gar nicht erst abwartete. Seine Bekannten aus der Umgebung waren, nachdem sie ihn in den ersten Monaten nach dem Krankenhausaufenthalt besucht hatten, mit der Zeit nicht mehr gekommen, weder Dostal, sein langjähriger Freund, noch Brachmeier, der in einer Wohnung im Nebeneingang gewohnt hatte. Nur Jagbauer schaute regelmäßig herein, um mit Vater am Balkon eine Zigarette zu rauchen oder ihm von den letzten Neuigkeiten aus Floridsdorf zu erzählen. Manchmal blieb er zum Essen und versuchte, durch seine Anwesenheit Mutter ein wenig aufzuheitern, und sonntags nach der Messe, die er trotz seiner früheren kommunistischen Parteizugehörigkeit besuchte, worüber Vater sich immer lustig gemacht hatte, saß er an unserem Küchentisch und trank Kaffee, während Mutter das Essen zubereitete und sich mit ihm unterhielt. Eines Tages brachte er nach Absprache mit ihr einen Käfig mit drei Wellensittichen mit, die von da an mit ihrem fröhlichen Gezwitscher die Totenstille unserer Wohnung durchbrachen und sie dadurch noch spürbarer machten.
Als sich die aufgeheizte Stimmung nach unserer Auseinandersetzung bei Mutters letztem Besuch vor zwei Jahren etwas beruhigt hatte, fasste ich den Mut, mit ihr ein Photoalbum durchzusehen, das sie mir einmal mit den Worten geschenkt hatte »Damit du von uns«, und damit meinte sie unsere Familie vor Vaters Tod, »ein paar Bilder hast«. Darin fanden sich einige Aufnahmen, die Vater von uns aber auch von den Nachbarn im Speiser-Hof geknipst hatte, Szenen an der Alten Donau, von gemeinsamen Wanderungen mit Mutter und mir auf den Hochschwab oder die Rax waren darunter, aber auch ältere Bilder aus Vaters Zeit in Griechenland während des Krieges. Ein Bild zeigte ihn mit seinen Eltern und seinem Bruder Edgar in einem Hinterhof in Kapfenberg, aufgereiht vor einer Hauswand, deren Putz bröckelt, in ärmlichen Kleidern, niemand lächelt. Vater konnte ich nicht mehr zu den Personen befragen, die sonst noch zu sehen waren, und Mutter
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