Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
das Überleben, jeder Tag musste überstanden werden. Wer Arbeit, Brot und ein Dach über dem Kopf hatte, war froh, und später, als es den meisten gut ging, fragte man nicht mehr nach solchen Dingen, man schwieg. In Basel wäre es ohnehin unsinnig gewesen, danach zu fragen. Niemand hätte mich verstehen können, niemand hier musste vor den Bomben fliehen, nur die wenigsten hatten einen Angehörigen im Krieg verloren, und ich denke mir manchmal, dass die Menschen in diesem friedlichen Land gar nicht wissen, was ihnen und der nächsten Generation erspart geblieben ist.
Noch vor zwei Tagen habe ich den linden Fahrtwind in der Altstadt genossen, als ich mit dem Elektrorollstuhl in der menschenleeren Altstadt eine abschüssige Gasse hinuntergefahren bin, ohne Rücksicht auf Passanten nehmen zu müssen. Wie damals in Wien war ich wieder auf der Lauer, ob mich jemand beobachten würde, denn es schickt sich nicht für eine alte Frau, mit dem Rollstuhl zu rasen. Das Laufen in den Straßen von Wien hat mich damals der Enge der Wohnung von Onkel Heinrich und Tante Else entkommen lassen. Zuerst fühlte ich mich beim Lauf zur Schule beschwingt, später, beim Lauf zur Universität und dann zum Krankenhaus, wo ich als Hilfspflegerin gearbeitet habe. Irgendwann ist nichts mehr sonderbar gewesen an einer jungen Frau, die lief, als die Sirenen Bombenalarm oder Entwarnung gaben. Zuerst liefen alle, um Deckung zu finden, dann um zu sehen, was geschehen war und ob die Angehörigen überlebt hatten, ob das Geschäft getroffen worden war, das ihnen gehörte oder in dem sie arbeiteten. Ab Januar 1945 lief ich oft um mein Leben, obwohl ich mir als Mädchen einige Jahre zuvor gewünscht hatte, am nächsten Tag nicht mehr aufwachen zu müssen. Denn in den ersten Jahren nach meiner Ankunft in Wien gehörte ich nirgends dazu. Meine Sprache war anders, ich fühlte mich fremd. Dieser Lebensverdruss verlor sich dann später im Gymnasium, als ich mit dem Laufen anfing und mich in den Büchern verkriechen konnte, die ich regelmäßig in der Leihbibliothek holte. Dann dachte ich nicht mehr daran, mich aus dem obersten Stock des Hauses neben dem Belvedere auf die Straße zu stürzen. Später nach den Bombenangriffen war ich ziellos und wie betäubt durch die Stadt gerannt, vorbei an den brennenden Häusern, vorbei an den Straßenbahnwagen, die menschenleer mit geborstenen Fenstern vor grotesk aufgebogenen Schienen standen, vorbei an Menschen mit Panik in den Gesichtern, leblosen Gestalten. Wenn ich aus dem dunklen Inneren eines Luftschutzkellers kam, lief ich oft lange, ohne zu wissen wohin und ohne innehalten zu können, selbst wenn neben mir jemand an einem Stiegeneingang vor Schmerz jammernd lehnte. Ich konnte, was mich umgab, nur mehr von Ferne wahrnehmen, war wie betäubt und versuchte, durch das Laufen wieder zu mir zu kommen, und eines Tages war ich Max in die Arme gelaufen.
Damals, vor zehn Jahren, als ich vor dem Fernseher fassungslos den Einsturz der Twin Towers verfolgt habe, waren die Angst, das Geschrei der Menschen, das dumpfe Grollen der Erde und die Erschütterung, wenn irgendwo in der Nähe des Luftschutzkellers eine Bombe einschlug, mit einem Mal wieder da. Der alte Mann kam mir in den Sinn, der seine Arme verzweifelt um meine Knie klammerte und hilflos laut schluchzte und erst, als ich ihm über die grauen Haare strich, still wurde, Kind und Greis zugleich. Die Starre der Bombennächte kroch langsam wieder von meinen Füßen bis zum Hals, fühlbar war die Kälte in meinem Körper, mit der ich den Tod erwartet hatte. Ich konnte mich nicht vom Fernseher lösen und meine Erinnerungen mischten sich mit der Vorstellung, ich befände mich bereits im Stiegenhaus der brennenden Hochhäuser, deren Fassaden und Fenster nach dem Aufprall der Passagierflugzeuge barsten. Ich war mitten unter drängenden Leibern, die versuchten, nebeneinander, nacheinander, übereinander die unzähligen Stufen hinunterzukommen und dabei rücksichtslos die Langsameren zur Seite drängten. Der Druck auf meinen Brustkorb stieg unerträglich, ich hätte laut schreien wollen, um genügend Luft zu bekommen. Als ich endlich aufstand und die Fernbedienung betätigte, hörte ich das Klingeln des Telefons und dann Lenas besorgte Stimme. Sie fragte mich, ob ich wisse, was geschehen sei, und ich konnte nur noch stammeln »Du wirst sehen, das ist der Dritte Weltkrieg«. Ich erinnere mich an ihre Versuche, mich zu beruhigen, zu trösten und mir zu versichern, dass die
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