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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Bürgerleben mit der Sammelwut von alten Möbeln Genüge getan, und die Stücke waren schließlich in der Wohnung in Wien gelandet. So fristeten die Kommode und der Schrank, die Stühle um den Nussbaumholztisch und das Canapé, das zum Krankenlager umfunktioniert worden war, dort ihr museales Dasein, das nun durch Onkel Heinrichs Bettlägrigkeit zu neuem Leben erweckt worden war, denn Gäste hatten in diesem Zimmer seit meiner Ankunft in Wien nie übernachtet. Nun kamen seine beiden Angestellten fast täglich, setzten sich auf die knarrenden Sessel, benützten den Tisch, nahmen seine Order entgegen und verrichteten kleine Schreibarbeiten. In den Dreißigerjahren hatte Onkel Heinrich einen Großteil seines Vermögens beim Zusammenbruch der Creditanstalt verloren und man merkte ihm seinen Verarmungswahn an, wenn er sinnlose Tobsuchtsanfälle bekam, weil Tante Else ein teures Stück Fleisch gekauft hatte. Da wir auf sein Einkommen angewiesen waren, wagten Tante Else und ich, aber auch keiner seiner Angestellten einen Einspruch oder eine Gegenwehr gegen seine verbalen Zumutungen. In diesem, einer Grabkammer ähnelnden Zimmer mit den schweren dunkelgrünen Vorhängen, die gegen das Sonnenlicht stets halb zugezogen bleiben mussten, lag Onkel Heinrich von hohen Kissen gestützt und erteilte übellaunig seine Weisungen. Zu dieser Zeit gab er mir auch in knappen Sätzen und in einem Ton, der keine Widerrede duldete, den Befehl, mein Studium aufzugeben. Ich sei zu Hause als Hilfe für die Tante nicht mehr abkömmlich. Frauen gehörten seiner Meinung nach ohnehin nicht an die Universität und sollten schon gar nicht Medizin studieren, die ihrer Natur artfremd sei. Ein Studium für ein Mädchen sei ohnehin zum Fenster hinausgeschmissenes Geld, weil es heiraten und Kinder zur Welt bringen sollte.
    Nach dem Abbruch des Studiums verrichtete ich neben meinen Diensten im Krankenhaus Botengänge für Onkel Heinrich, stellte Briefe zu, die er mir diktiert hatte, und auf dem Rückweg sollte ich dann die Post von der Kanzlei nach Hause bringen. Die Tage zerrannen dumpf, und ich hegte Groll, fühlte aber auch die tief in mir sitzende Verpflichtung meinen Pflegeeltern gegenüber. Nur manchmal traf ich eine Freundin, und einzig der Sport war akzeptiert, drei Mal in der Woche ging ich zum Training. Beim Drehen der Runden auf der Sandbahn konnte ich anderen Gedanken nachhängen. Manchmal ergab sich auch eine Gelegenheit, mit dem Waffenrad hinaus zur alten Donau zu fahren, und ich war fast versucht, einem Flirt nachzugeben und eine Verlobung einzugehen. Ein ehemaliger Mitstudent hatte sie mir angetragen, aber ich getraute mich nicht einmal, ihn zu küssen oder mit ihm Händchen zu halten, wie es die anderen in meinem Alter taten. Von Sarah, mit der ich mich trotz unserer Rivalität während der Wettkämpfe inzwischen befreundet hatte, wusste ich, dass sie öfter ein paar Stunden mit einem jungen Mann in einem Gartenhäuschen verbrachte. Ich war spröde und heute wünschte ich mir, ich hätte damals in einer Juninacht die ersten Erfahrungen gesammelt und nicht, wenig später, gewaltsam, am Ende des Krieges.
    Draußen rasen Hügel, grüne Wiesen und Städte vorbei. Die Bäume am Rande der Bahntrasse biegen sich leicht im Wind, und ich kann ihn in den Haaren fühlen wie früher, als ich gemeinsam mit Max unter einem Baum im Hochschwab, vor einem Gewitter geschützt gekauert bin, ich ahne die zarte Berührung der sanften, heißen Brise beim Spazieren mit Alexander am Strand einer kargen Insel in Griechenland. Gerne würde ich mich aus dem Fenster des fahrenden Zuges lehnen, den Fahrtwind im Gesicht. Ich weiß nicht mehr, wann ich zum letzten Mal ein Fenster im Zug geöffnet habe, in den modernen Zügen ist alles dicht verschlossen. Seit langem nehme ich auf meinen Reisen keinen Nachtzug mehr, weil man die Schlafwagenfenster nicht herabschieben kann. Ich ertrage die stickige Luft nicht, und beim Versuch zu schlafen, kriechen Panik in meinen Körper und Bilder von entgleisenden Waggons, Feuer in den Abteilen oder vom Sturz des Zuges von einer hohen Eisenbahnbrücke hinab in eine felsige Schlucht steigen in mir auf. Überall lauert mir dieses Bedürfnis, rechtzeitig zu fliehen, auf. Wo kann ich mich bei Fliegeralarm hinretten, wo untertauchen, wenn feindliche Soldaten kommen, auf wen kann ich mich verlassen? In Wien habe ich nach dem Krieg nie andere Menschen danach gefragt, ob sie diese peinigenden Ängste kennen. In den ersten Jahren ging es nur um

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