Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
wusste nur ungefähr Bescheid. Ich war verblüfft, was die Photographien in Mutter auslösten, und sie erzählte Geschichten, die ich von ihr vorher noch nie gehört hatte. Ein Bild von Mutter sitzend als junges Mädchen, dahinter in strammer Haltung im lang geschnittenen Gehrock, Onkel Heinrich, neben ihm, die Hände artig auf die Rücklehne des Sessels gelegt, Tante Else, in einem hochgeschlossenen Kleid mit Spitzenkragen. Mutter erzählte von der Zeit als Kind in Wien und dann vom Krieg, als sie zweimal fast dem Tod in die Arme gelaufen sei, bei einem schweren Bombenangriff, als sie den Luftschutzbunker nicht mehr rechtzeitig erreicht hatte, und am Ende des Krieges, als die Russen die Stadt eroberten und sie mit den anderen Krankenschwestern im Lazarett auf die Ankunft der Besatzer warteten. Dann wechselte sie rasch das Thema, als wollte sie nicht weiter an alle Einzelheiten erinnert werden, und benahm sich, als wäre sie nur versehentlich bei den Schilderungen ihres damaligen Lebens angelangt. Wir versuchten beide, so gut es ging, Vaters Tod nicht zu erwähnen, und ich hatte den Eindruck, als sei er nur kurz aus dem Zimmer gegangen und würde bald wieder zur Tür hereinkommen, um sich zu uns zu setzen und von seinen Erinnerungen zu erzählen. Ein Bild zeigte ihn in Uniform mit kurzen Hosen, braungebrannt vor korinthischen Säulen, die hinter ihm mit den sanften Hügeln und dem Meer zu einem Postkartenidyll verschmolzen, den Blick in die Ferne gerichtet. Vielleicht hatte er gerade an Mutter gedacht, was ich ihr auch sagte, worauf sie still wurde, um nach einer Weile, als wir stumm weitergeblättert hatten, zu sagen, dass er, bevor er nach Griechenland verlegt worden war, ein unglaublich unbeschwerter und hübscher Bursch gewesen sei, die Sanftmut in Person, eine Beschreibung von Vater, die mir aus dem Mund von Mutter fremd klang. Mich erstaunte ihre Wortwahl, und ich beobachtete ihr Gesicht, das die Härte um den Mund verloren hatte, und verstand mit einem Mal, wie sehr meine Eltern einander verbunden gewesen waren.
Wien August 1966
Max beobachtete den dunstigen Himmel über dem Dach des Nachbarhauses, dessen Farbe sich von einem immer heller werdenden Grau in ein Weiß zu wandeln begann. Der morgendliche Lärm der Stadt war zu hören, im Hof schlich eine schwarze Katze mit einer Maus zwischen den Zähnen geduckt an der Mauer des Schuppens entlang. Max saß an seinem Platz auf dem Balkon. Hier konnte er sich seinen Gedankenläufen hingeben, die, wenn er versuchte, sie zu steuern, ihm halfen, die nächtlichen Erinnerungen wegzudrängen. Hier fand er Ruhe, musste mit niemandem reden. Er mochte nichts mehr sagen, war am liebsten allein, und hoffte, dass diese grässliche Zeit mit den blutigen Erinnerungen vorübergehen würde. Wenn er alles herausgeschwitzt haben würde, dachte er, würde eine Erleichterung eintreten und er schrittweise wieder zu seinem alten Leben zurückfinden.
Als Kind war Max oft krank gewesen, besonders in der Zeit in Moskau, als er im Kinderheim des Schutzbundes hohes Fieber bekommen hatte und dann von der Betreuerin mit kalten Wadenwickeln behandelt worden war. Er war vom Schlafsaal in ein abseits gelegenes Zimmer transportiert worden, das er eine Woche oder zwei nicht verlassen durfte. Sein Bruder Edgar war nie krank geworden und hatte Max nicht besuchen dürfen, aber er wäre ohnehin nicht gekommen, denn er schämte sich für seinen kleinen Bruder, den er in der deutschen Schule in Moskau, wo beide jeden Tag unterrichtet wurden, vor den Hänseleien der anderen in Schutz nehmen musste. Von der Mutter war ihnen beim Abschied aufgetragen worden »Wenn ihr zusammenhaltet, dann kann Euch nichts geschehen«. Edgar hatte in der Schule keine Probleme gehabt, nicht so wie Max, der sich mit dem neuen Leben in Moskau nur schwer anfreunden konnte und immer auf Nachricht von zu Hause wartete. Max malte sich oft aus, wie es sein würde, wenn die Mutter zur Türe hereinkommen oder der Vater auf einmal mitten im Zimmer stehen würde. Selbst im Sommerlager auf der Krim, wo er zum ersten Mal das Meer sah und schwimmen lernte, hätte er dem Großvater gerne das Meer gezeigt, und wenn jemand verdient hätte, einen Blick ins unendliche Blau zu werfen und darin zu baden, dann wäre er es gewesen. Max hoffte, die Mutter würde, wie versprochen, Großvaters Angel hüten, die er im Keller oben auf der Halterung mit den alten Holzskiern verstaut hatte. Edgar und er erfuhren damals von einem befreundeten jungen
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