Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Menschen inzwischen dazugelernt hätten. Wir haben seither nicht mehr über diese Episode gesprochen, aber vielleicht sollte ich es diesmal versuchen, wir haben ein paar Tage Zeit.
London Juni 2011
Den Vormittag habe ich damit zugebracht, im Atelier Ordnung zu machen und die Kleider der Modenschau von letzter Woche zu sortieren. Ich habe einige Photos gemacht, um sie Mutter zeigen zu können. Während meiner letzten Modenschau vor zwei Jahren war sie gerade zu Besuch und hatte es geschafft, mich durch den andauernden Kleinkrieg zu Hause derart von meiner Arbeit abzulenken, dass ich knapp davor war, sie darum zu bitten, früher nach Hause zu fahren. Mein Versuch, Vaters Tod oder meinen Kontaktabbruch nach dem Tod der Zwillinge anzusprechen, beantwortete sie wiederholt mit einem beleidigten Rückzug, den ich in meinem Haus nicht hinnehmen wollte. Sie kam dann nicht zur Schau, es war nicht mehr möglich, ruhig mit ihr zu reden und schon gar nicht, ihr meine Sicht der Dinge darzulegen, ohne sofort in einem Streit mit ihr zu enden. Es ist seit Jahren immer dasselbe, ich leide, wenn Mutter weit weg ist, habe ein schlechtes Gewissen, komme mir undankbar vor, aber ich fühle mich beengt und wegen jeder Kleinigkeit kritisiert, wenn sie in meiner Nähe ist. Es gab selten gemeinsame entspannte Momente, die hat es auch früher in Wien nicht oft gegeben. In Mutters Augen war nie etwas wirklich gut, was ich getan habe oder was ich dachte. Zahlreiche Sätze haben sich in meinem Gedächtnis eingegraben »Wenn Du meinst, dass es richtig für Dich ist, dann nur zu. Du musst damit glücklich werden«. Das Trennende lag nicht im Wortlaut, es lag im Tonfall, der unüberhörbar Missachtung und negative Prophetie mitschwingen ließ. Mutter hatte ständig eine Befürchtung auf den Lippen, die den Zauber eines Moments brach, auch wenn gerade etwas Freudiges geschehen war. Wie oft versuchte ich, sie auf ihre Redeweisen aufmerksam zu machen, plapperte nach, was sie sagte, um meinem Ärger Luft zu machen und nicht an ihm zu ersticken. Selbst diese Hinweise verstand Mutter nicht, sie war beleidigt und sprach nicht mehr mit mir, wenn es sein musste, tagelang. Ihr Schweigen war schlimmer als jede Ohrfeige. Es gibt vieles, worüber ich mit ihr reden möchte, bevor ich keinen Zugang zu ihren Geschichten und denen meines Vaters mehr habe, unwiederbringlich dann, wenn sie all das mit sich ins Grab nimmt.
Von Vaters Vergangenheit weiß ich wenig. Als er starb, war ich zu jung, um die Zusammenhänge zu begreifen. Sein eigener Vater und Großvater waren an den Februarkämpfen 1934 in Kapfenberg beteiligt gewesen. Sein Großvater hatte diesen Einsatz mit dem Leben bezahlt, sein Vater mit einem abgefrorenen Zeh und Lagerhaft. Die Erzählungen über seinen Aufenthalt als Kind in der Sowjetunion sind mir nur schemenhaft im Gedächtnis geblieben, und ich würde ihm heute andere Fragen stellen als damals als Halbwüchsige. Er hatte von den Vorbereitungen zum Streik in der Steiermark erzählt, aber selten von seiner Mutter oder seinem Bruder Edgar, der, so viel weiß ich von Mutter, in der Normandie nach den Landungsaktionen der Alliierten versucht hatte, sich den Engländern zu ergeben. Seine eigenen Leute hatten ihm in den Rücken geschossen, um seine Flucht zu verhindern, obwohl die Lage völlig hoffnungslos gewesen sein musste. Vater hatte lange nichts von seinem Bruder gehört, er war für verschollen erklärt worden, bis eines Tages Walter, ein gemeinsamer Freund, in Wien aufgetaucht war, um zu erzählen, was er von anderen Kriegsgefangenen über Edgar erfahren hatte. Walter, der mit Edgar gemeinsam an die Westfront verlegt worden war, hatte schwer verwundet überlebt und war von den Engländern gefangengenommen worden. Alle anderen Soldaten seines Gefechtsstandes waren durch einen Treffer unter zentnerschweren Betonblöcken begraben worden und sie lagen dort noch immer auf einer Klippe über dem Meer. Ich habe wenig Vorstellung davon, welches Verhältnis Vater zu seinem Bruder gehabt hatte. Beide konnten aus der Sowjetunion zurückkehren, im Gegensatz zu einigen der ehemaligen Schutzbundkämpfer, die später den Säuberungsaktionen unter Stalin zum Opfer gefallen sind. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs waren sie zum Teil als Westspione in Gefängnisse gesteckt oder in Arbeitslager östlich des Ural deportiert worden, aus denen sie oft nicht mehr zurückkehrten.
Warum Vater so stolz darauf gewesen war, Arbeiter zu sein, war für mich als Mädchen
Weitere Kostenlose Bücher