Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
von außen i m Sprec hzimmer sitzen. Die durchdringende Herbstsonne warf ihre Strahlen durch das Fenster, Max schräg gegenüber der hageren Figur des Arztes, in einen weißen Mantel gekleidet, mit schwarzen Haaren, die in wirren Locken in die Stirn fielen, ein gepflegter kurz geschnittener Vollbart und eine dunkelbraune Hornbrille umrahmten den wachen Blick aus hellen Augen, mit dem der Arzt abwechselnd Max beobachtete und dann wieder auf das Papier schaute, das vor ihm lag. Mit der linken Hand ließ er in schnellen Bewegungen kaum hörbar den Bleistift über das Blatt gleiten und hielt in Stichworten die Erzählungen des Patienten fest. Max erblickte in der Ferne die Umrisse eines Dorfes, eingebettet zwischen sanften Hügeln, er konnte jede Einzelheit deutlich erkennen und begann in leisem, unsicherem Ton zu beschreiben, was er sah. Im Hintergrund sah er grüne Wiesen, die an den nach oben hin steiniger werdenden Hügeln hinaufkrochen. Auf der Fahrt, zusammengepfercht mit anderen Soldaten auf der Ladefläche des Lastwagens, hatte er vorher den schneebedeckten Parnass in der Ferne erkennen können. Es war ihnen nicht gesagt worden, wohin sie gebracht würden, sie waren für einen Spezialauftrag abkommandiert worden. Dann der abrupte Halt, und als sie sich zum Aussteigen richteten, kam der Befehl, sie sollten sich beeilen, ein Dorf müsse gestürmt werden. Einer nach dem anderen sprang auf die Straße hinunter und lief zu den ersten Häusern hinüber. Sie duckten sich in die Büsche, hinter die Olivenbäume, die Lastwagen fuhren außer Sicht hinter einen Hügel. Als Treffpunkt wurde die Kirche ausgemacht, inzwischen hatten die anderen vom ersten Lastwagen in den Gassen, die zum Dorfplatz führten, bereits Aufstellung genommen.
Max saß in sich versunken da, die Schultern leicht nach vorne gesenkt, an seiner Nasenwurzel bildeten sich tiefe Falten, mit leiser Stimme fuhr er fort zu sprechen. Der Arzt musterte ihn aufmerksam von der Seite und folgte gebannt jeder seiner Bewegungen, jedem Zucken. »Ich kann vier Mann an der nächsten Häuserecke erkennen, die Schwalben fliegen tief, am Horizont weiter hinten in den Bergen hängen dunkle Wolken, eine Katze verschwindet unter einem Holztor in einen Innenhof. Partisanen, hieß es, bevor wir wie Kettenhunde von der Leine losgelassen wurden, wir sollen jeden erschießen, keiner darf überleben. Ich laufe weiter bis zum vordersten Haus in der Gasse, die Musik, die schon am Dorfeingang leise zu hören war, wird lauter, die Partisanen haben sich auf dem Platz versammelt, wollen uns in einen Hinterhalt locken. Zwei Männer sind mit dem Maschinengewehr vorangestürmt, Ratatatatat, es geht los, ich muss nachrücken, muss ihnen den Rücken freihalten, in gebückter Haltung weiterlaufen, das Gewehr im Anschlag, sie können sich überall versteckt halten, Unterstände gibt es im Dorf genug, Häuser, Ställe, Gärten, Höfe, ein paar Schafe blöken, werden von den Männern durch die schmalen Gassen getrieben, als Zielscheibe, Kugelfang.« Max verstummte, stoppte in seiner immer hastiger werdenden Erzählung. Nach stockendem Beginn war er ins Rasen gekommen. Er setzte wieder an, doch kam lange kein Laut mehr über seine Lippen und nach einer Weile, in der nur das leise Kratzen des Bleistifts zu hören war, begann sich Maxens Brustkorb schneller zu heben und zu senken, sein Kopf hatte sich aufgerichtet, die Hände waren zu Fäusten geballt, an seinem Hals wurden über den gestauten Venen rote Flecken sichtbar, die Falten auf der Stirn vertieften sich, Muskeln zuckten unter der von Bartstoppeln übersäten Haut der Wangen, die Augäpfel wanderten unter den verkrampft geschlossenen Lidern, wie bei einem Träumenden, hastig hin und her. Die vorsichtige Stimme des Arztes fragte zunächst, wo Max sich befände, die Anspannung in dessen Gesicht und Körperhaltung nahm stetig zu, ein Zittern begann sich von seinen geballten Händen aufwärts zu den Armen über die Schultern und weiter über den Nacken zum Kinn hin auszubreiten. »Was sehen Sie?« Die tiefer werdende Stimme des Arztes versuchte mit einem harten Räuspern seine Befürchtungen zu verdecken. Er wusste, es gab kein Zurück, er musste weiterfragen, die Erzählung in Gang halten, musste Max durch das Bild führen, was immer er dort auch sehen mochte. Er wollte ihn Schritt für Schritt das Vergangene durchleben lassen, um ihn auf diesem Weg aus dem Albtraum herauszuholen, in den er seit dem Unfall immer wieder glitt. Er wollte ihn an
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