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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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brennenden Kirchen, die er durchquerte, ohne sich ein Haar zu versengen, von Kameraden, die er früher gekannt hatte, die mit geblendeten Augen die Gewehre auf ihn richteten und dann die Hunde erschossen, die winselnd um seine Füße Zuflucht gesucht hatten. Er spürte das stumme Zucken der Leiber, die sich ein letztes Mal aufbäumten und dann zusammensackten, zu leeren Fellsäcken schrumpften. Er hob sie, als die Soldaten ihn lebend zurückgelassen hatten und stumm abgezogen waren, einen nach dem anderen auf, trug sie an das Ufer eines Baches, warf sie in die Strömung, wo sie aufquollen und das Wasser hellrot verfärbten, das schäumend durch grüne Frühlingswiesen floss. Wenn er aufwachte, hatte sein Kopf die Hülle des Traumes noch übergestülpt wie eine Kapuze, die eine Sicht auf den Tag lediglich in einem kleinen Ausschnitt freigab. Es gelang ihm nur schwer, das Traumgeschehen zu erzählen, er musste es aus sich herauspressen, und nach dem Erzählen blieb dann die Hitze in der Brust und er roch einen süßlichen Gestank nach verbranntem Fleisch.
    Die Krankenschwester stand vor ihm, er hatte sie nicht kommen gehört, und erst als sie ihn ein zweites Mal ansprach, er solle mit ihr kommen, der Arzt erwarte ihn zur Therapie, erhob er sich langsam, ging starr vorbei an den Betten der übrigen Männer im Saal, hinüber zum Schrank neben dem hohen Fenster und holte sich mit umständlichen Bewegungen sein abgetragenes graues Sakko vom Bügel. Er wollte nicht im verknitterten Hemd zum Gespräch erscheinen, in dessen Verlauf er auch an diesem Tag wieder mit dem Wesen zu tun bekommen würde, das sein geheimes Versteck in einer Ecke seines Herzens mit scharfen Zähnen verteidigte. Langsam richtete Max seine Schritte auf die hohe doppelflügelige Türe, an deren Schwelle bereits die Schwester auf ihn wartete, deutlich spürte er die Blicke der anderen Männer in seinem Rücken, sie fragten sich, warum ausgerechnet er wieder ins Sprechzimmer gebeten wurde. Nach unsicheren Schritten, vorbei an den Türen der aneinandergereihten Krankensäle, vorbei an den schulterhohen Heizkörpern, die wie weiße Reptilien die Wände zwischen den Milchglasfenstern belagerten, ging er direkt zu auf das graue Schild mit dem Namen des Arztes, der ihn bereits erwartete, wie in den letzten Tagen auch, wird er den Traum dieser Nacht erzählen, um ihn dann, vom Arzt in Trance versetzt, weiterzuträumen, beobachtet und begleitet von diesem jungen Mann, zu dem er trotz des Altersunterschieds Vertrauen gefasst hatte.
    Als er an die angelehnte Türe klopfte, hörte Max die klare Stimme des Arztes, die ihn aufforderte einzutreten, und die ihn hineinzog in eine Welt, vor der er sich fürchtete, die ihm jedoch als Zufluchtsort in diesem Kliniklabyrinth willkommen war, wenn er sich verwundet fühlte und sich am liebsten unter die Decke seines Bettes verkrochen hätte. Das Zimmer des Arztes schützte ihn vor den lauten Selbstgesprächen, den Rufen der anderen Kranken, dem Schnarchen und Stöhnen, dem unermüdlichen Auf und Ab gehen, den sich ständig wiederholenden, den Saal füllenden Bewegungen, von Kreaturen, deren Tritte in seiner Vorstellung bereits tiefe Wege gegraben haben mussten, aber unsichtbar blieben. Nachdem er sich im Raum umgesehen und der einladenden Geste seines Gegenübers gefolgt war und näher trat, setzte er sich in den Stuhl, den er von den letzten Sitzungen her schon kannte. Nach ein paar kurzen Fragen, wie er denn geschlafen habe und wie er sich heute fühle, die er nur knapp beantwortete, sollte er wieder die Augen schließen und nur noch auf die Stimme des Mannes lauschen. Der Arzt leitete ihn an, vom Kopf bis zu den Füßen Stück für Stück seinen Körper zu durchwandern, um ihn dann entspannt zurückzulassen und frei in seine Traumwelt abzuheben. Max saß aufrecht im Sessel, die Hände lagen auf den Oberschenkeln, sein Kinn war auf den Brustkorb gesunken, von den hölzernen Unterschenkeln, die ihn ständig an seine Versehrtheit erinnerten, hatte er sich entfernt, während vor seinen Augen das geäderte Rotschwarz unter den schweren Lidern allmählich einem lichten Treiben wich, in dessen anfänglich unkenntlichem Farbennebel langsam Menschen auftauchten, ein Teil seines letzten Nachttraums. Max nahm die glühende Sonne auf der Haut und den Geruch seiner verschwitzten Uniformjacke wahr, in seiner Hand hielt er das Gewehr, mit der rechten Schulter lehnte er an der groben Plane des Lastwagens, und im selben Moment sah er sich

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