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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Zugführers entschuldigt sich für die Fahrtunterbrechung. Eine Schafherde hätte die Geleise blockiert. Die Mitreisenden beginnen wieder laut miteinander zu reden, eine Frau schräg gegenüber lacht erleichtert auf, sie zeigt ihrem kleinen Sohn die Schafe und den Hund. Sie ist aufgestanden und steht mit dem Kind jetzt direkt neben meinem Rollstuhl, um besser aus dem Fenster sehen zu können, und als ich einen fleischigen Klumpen zu erkennen glaube, greife ich blitzschnell nach dem Kopf des Bären, den der Kleine im Arm hält, um seinen Blick vom Fenster abzulenken. Er streckt mir mit einem Lachen das Plüschtier entgegen, während die Mutter zunächst zum Fenster hinaus auf die Tierkadaver sieht, dann schaut sie mich lange an und geht mit dem Knaben wieder an ihren Platz zurück.Nach einer Weile, in der ich mich in der vorbeigleitenden Landschaft zu orientieren versuche, tauchen die ersten Häuser von Frankfurt auf. Ich weiß nicht, in welcher Gegend der Stadt wir uns befinden und ob das früher hier auch so ausgesehen hat. Die letzten Male habe ich die Stadt ignoriert, habe sie als Durchreisestation auf meinem Weg nach London betrachtet, ich wollte damals nicht an meine Kindheit erinnert werden. Diesmal ist es anders. Der Main kommt ins Blickfeld, dahinter die Hochhäuser, aus einem ähnlichen Blickwinkel muss ich damals die Stadt gesehen haben, als ich in Begleitung von Onkel Heinrich Frankfurt verließ. Ich erkenne den Eisernen Steg, die Spitze des Doms. Die Wolkenkratzer lassen mich eher an amerikanische Städte denken. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob ich damals bei der Abfahrt aus Frankfurt geweint habe, aber wahrscheinlich getraute ich mich nicht, denn ich müsste dankbar sein, dass ich von den Wiener Verwandten aufgenommen wurde, hatte Tante Frieda beim Abschied gesagt. Sie hatte mir in den Monaten davor immer gedroht, mich ins Kinderheim zu stecken, wenn ich gemeinsam mit ihren Kindern zu laut spielte, oder nicht rechtzeitig ins Bett zu bringen war, weil ich mich seit dem Tod meiner Eltern entsetzlich vor der Dunkelheit fürchtete, die für mich mit den Geistern von unbekannten Toten bevölkert war. Sie streckten mir im Halbschlaf ihre knöchernen, bleichen Hände entgegen, und ich konnte ihnen manchmal nur entrinnen, wenn ich laut nach Vater und Mutter rief, aus dem Bett aufsprang und mich daneben kniete, die Hände gefaltet vors Gesicht hielt und leise Gebete vor mich hin murmelte. Sie machten mich unantastbar, solange ich mit Hingabe weiter vor mich hin sprach, bis ich erschöpft neben dem Bett einschlief. Als ich am Morgen unter meinen Decken erwachte, wusste ich nicht, was ich in der Nacht gemacht hatte. Im Jahr darauf hängte mir Tante Else ein kleines Perlmuttkreuz an einer filigranen Silberkette um den Hals. Es sollte mich gegen die nächtlichen Dämonen in Schutz nehmen.
    Die Zugbegleiterin nimmt meinen Koffer aus der Gepäckablage, telefoniert mit dem Bahnhofsdienst, fragt mich freundlich, ob die Reise auch komfortabel für mich gewesen sei. Ich will jetzt nicht reden, will einfach aus dem Fenster sehen, aufnehmen, aufsaugen, was ich schon lange nicht mehr so gesehen habe, und wenn ich hier wieder wegfahre, auch nie wieder sehen werde.

Wien November 1966
    Max saß mit schwerem Kopf an einem Tisch neben dem großen mehrflügeligen Fenster, durch dessen Glasscheiben das gelbe Licht des Nachmittags fiel. Seine Stirn war heiß, an der linken Schläfe hämmerte ein stechender Schmerz, sein Mund quoll über vom bitteren Speichel, den er seit zwei Tagen kaum zu schlucken vermochte, die zähe Flüssigkeit tropfte ständig aus allen Winkeln und Taschen der Schleimhaut. Er blinzelte mit zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster auf den gegenüberliegenden Pavillon der Klinik, dann wieder zurück auf den Boden vor sich, dessen schmutzigweiße Fliesen er kaum wahrnahm. Er hatte zuvor mit großer Anstrengung und in lähmender Langsamkeit einen Brief an Margarethe geschrieben, den er am Abend, wenn der Kopfschmerz es ihm erlaubte, ergänzen würde. Es war noch nicht alles gesagt. Jetzt sollte sie seine Geschichte in ihrem ganzen Ausmaß erfahren.
    Der Arzt hatte am zweiten Tag nach seiner Einlieferung angefangen, Max über seine wiederkehrenden Albträume zu befragen, er solle alles beschreiben, jedes unnütze und unglaubwürdige Detail, und Max erzählte von dem unsäglichen Mahlstrom der unterschiedlichsten Szenen in seinem Kopf, erzählte von rostbrauner Erde, von Blut, das von Bäumen triefte, von

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