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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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paar Minuten, in denen ich mich kaum getraut hatte, Lena zu berühren, weil sie so entfernt wirkte und Phillip ihr liebevoll die Hand an die Wange gelegt hatte, fand ich es an der Zeit, die beiden alleine zu lassen. Die Zwillingskinder sollte ich nicht zu sehen bekommen, sie waren bereits in Brutkästen auf die Säuglingsstation verlegt worden.
    Am nächsten Tag, nach einer kurzen und unruhigen Nacht, rief mich Phillip an, die Mädchen hätten nicht überlebt, er wäre froh, wenn ich ihn bei Lena ablösen könnte, sie sei in einer fürchterlichen Verfassung. Als ich zu ihr kam, schlief sie fest, und ich setzte mich neben sie und legte meine Hand behutsam auf ihren Oberarm. Ich betrachtete sie still, so wie früher, wenn ich in der Nacht an ihr Bett geschlichen war, um zu sehen, ob sie wieder im Traum wild um sich schlug und die Decke zu Boden strampelte. Als Lena erwachte, bemerkte ich nicht gleich, dass ihre Augen auf mich gerichtet waren, ich blickte in Gedanken versunken zum Fenster. Ich kam mir bei einer Unaufmerksamkeit ertappt vor und sagte unüberlegt zu ihr, das Schicksal hätte entschieden, denn durch die künstliche Befruchtung habe diese Schwangerschaft unter keinem guten Stern gestanden. Lena hat mir ihren Arm entzogen und sich ohne etwas zu sagen auf die Seite gedreht. Ich führte das zunächst auf Schmerzen zurück, doch dann bemerkte ich, dass sie sich von mir abwandte und all meinen Beteuerungen zum Trotz, ich würde ihr gerne über den Verlust hinweghelfen wollen, sagte sie nichts mehr, bis sie mich zum Gehen aufforderte, ich solle endlich aus ihrem Leben verschwinden. Ich verließ den Raum und schlich wie betäubt durch das umliegende Viertel, setzte mich in ein Café, starrte dort zum Fenster hinaus und vergaß beim Verlassen des Lokals zu zahlen. Ich hatte auf der gegenüberliegenden Seite der Straße eine Telefonzelle entdeckt, von der ich Phillip anrief und ihm erzählte, was geschehen war. Während der U-B ahnfahrt entschloss ich mich, die Koffer zu packen und einen früheren Flug nach Hause zu nehmen, denn es erschien mir besser, die beiden allein zu lassen, ich konnte nichts mehr für meine Tochter tun. Ich hatte mich schon vorher gegen künstliche Befruchtungen ausgesprochen, und ich hätte wissen müssen, dass ich nicht im Stande war, meine Skepsis zu verbergen. Übermüdet habe ich den Flug umgebucht, habe London am selben Nachmittag verlassen. Phillip, der mich zum Flughafen brachte, sagte nur wenig. Er gab mir den Rat, ich solle mich nächste Woche bei Lena telefonisch melden und versuchen, die unglückliche Begegnung zu besprechen. Ich hatte die ganze Rückreise hindurch ein unangenehmes Gefühl an mir kleben, das ich zurück in Basel selbst unter einer warmen, beruhigenden Dusche nicht abstreifen konnte. In den nächsten Tagen versuchte ich trotz Phillips Rat Lena zu erreichen. Es war mir unmöglich, länger zu warten, aber entweder hob sie nicht ab oder sie ließ sich durch Phillip entschuldigen, der mir dann je nachdem, ob Lena im Raum war, so gut er konnte, in ein paar Sätzen erzählte, wie es ihr ging und wo die Mädchen begraben worden waren. Seine Berichte stimmten mich traurig, ich fühlte mich aus dem Leben meiner Tochter ausgeschlossen. Selbst auf einen Entschuldigungsbrief, den zu schreiben mir nicht leicht fiel, hat sie mir nicht geantwortet. Vermutlich habe ich die falschen Worte gewählt, was ich jedoch bis heute nicht weiß, weil Lena und ich uns nicht darüber ausgetauscht haben. Erst zwei Jahre später kurz vor Weihnachten, als ich ihr ein kleines Paket mit Christbaumschmuck, den sie als Halbwüchsige gebastelt hatte, schickte, rief sie mich an und bedankte sich, fragte nach, wo ich diese alten Sachen gefunden hätte. Die Zwillinge erwähnte sie mit keinem Wort und sagte nur, sie sei seit einigen Monaten in Psychotherapie. Diese Aussage verunsicherte mich weiter, denn ich wusste, Lena hatte die Girlanden und Kugeln mit Hingabe im Jahr vor dem Unfall ihres Vaters fabriziert. Ich beendete bald das Gespräch, froh darüber, das Schweigen zwischen uns fürs Erste durchbrochen zu haben.
    Auf der Böschung neben den Bahngeleisen läuft ein schwarzweißer Hund in geduckter Haltung ein paar Schafen hinterher, ihm folgt ein Mann mit Bart und braunem Filzschlapphut, in seiner rechten Hand trägt er einen langen Stock. Ihm folgt eine Unzahl dicht aneinandergedrängter Tiere mit verwachsener Wolle. Der Zug beginnt sich langsam wieder in Bewegung zu setzen und die Stimme des

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