Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
wurden getroffen. Sogar Gelächter war zu hören, zwar nur verhalten, aber es war trotzdem ein Lachen. Es war fast wie in alten Tagen, meinten einige, und mitten in der Trauer, die sich auf die sonderbarsten Arten zeigen konnte, glaubten viele an einen Aufschwung für Karmack. Doch Frank bemerkte noch etwas anderes. Niemand sah ihm in die Augen. Die Leute senkten die Stimme und wandten sich ab, wenn er sich näherte. Lag es daran, dass er Blenda an der Hand hielt? Oder hatte Bob Spencer vielleicht doch recht, dass die Leute der Überzeugung waren, er brächte Unglück mit sich, und deshalb wollten sie jetzt nichts von ihm wissen? Aber es war nicht Frank, der das Unglück mit sich brachte. Das schafften die Leute ganz allein. Er brachte nur die Nachricht. Aber er kümmerte sich nicht weiter darum. Der Sheriff hatte auch jemanden bei sich. Wendy Stout. Vielleicht war das ja nur ein Zufall. Vielleicht kamen die beiden nur gleichzeitig an. Doch einen Augenblick zögerte der Sheriff, nahm ihre Hand und ließ sie sogleich schnell wieder los. Aha, dachte Frank, und ein verschrobener Gedanke ließ ihn fast lachen, nämlich dass er, Frank Farrelli, nicht nur mit schlechten Nachrichten kam, er führte auch die Leute zusammen. Sie setzten sich in die zweite Reihe, in der für die Kommission Plätze reserviert waren. Veronicas Eltern und Mr und Mrs Perkins saßen vor ihnen. Die gesenkten, angespannten Nacken weinten. Der weiße Sarg stand auf dem Podest. Ein Blütenmeer ergoss sich über den Mittelgang. Alle waren da. Alle sind hier, bis auf die Toten, dachte Frank. Blenda drückte seine Hand, während die Kirchenglocken zu läuten begannen. Der Pfarrer kam herunter und begrüßte die Angehörigen. Er gab auch Marions Eltern die Hand. Dann hieß er alle willkommen und war auffallend wortkarg. Wir sind hier, um eines jungen Menschen zu gedenken, Veronica Mills, deren Zukunft auf eine so brutale und sinnlose Art abgerissen wurde. Benutze nicht das Wort sinnlos, dachte Frank, während das Echo der Kirchenglocken in Weinen verschwand. Sag nicht sinnlos. Sonst werden die Schmerzen nur tiefer und unerträglich. Es muss einen Sinn haben. Alles muss einen Sinn und ein Ziel haben. Sonst bricht die Welt auseinander. Der Pfarrer hätte das wissen müssen. Sag ungerecht. Fluche in der Kirche. Aber sage niemals sinnlos. Sinnlosigkeit ist das, was wir am schwersten ertragen. Anschließend wurde gemeinsam gesungen. Dann ging eine von Veronicas Klassenkameradinnen nach vorn und sprach im Namen der Jugendlichen, die noch in Karmack waren, in diesem verfluchten Ort ohne Arbeit und Träume. Sie beschrieb ein Mädchen, auf das man sich verlassen konnte, immer fröhlich, hilfsbereit, hübsch und verblüffend geschickt in allem, was die Zuhörer vorsichtig murmeln ließ, sogar die Eltern mussten lächeln. Das Mädchen beeindruckte mit all ihrem Mut, ihrem Ernst und ihrer Beherrschung. Doch sie beendete ihre Rede auf eine zweideutige Art und Weise. Selbst der hellste Geist wirft einen Schatten, sagte sie. Dann wandte sie sich dem Sarg zu, bekreuzigte sich, ging den Mittelgang hinunter und setzte sich ganz hinten hin, zusammen mit den anderen verlorenen Jugendlichen, während diese letzten Worte noch in der Luft hingen. Der Pfarrer blieb an der Kanzel stehen, umgeben und gefangen von der Botschaft des Mädchens. Der hellste Geist. Schatten. Er blätterte in irgendwelchen Papieren und schaute nicht auf. Er begann von Prüfungen zu sprechen, denen Gott uns aussetzt, und dass die Menschen schwer geprüft sind. Zuerst war es nur ein Murmeln, doch mit der Zeit nahm seine Stimme Form an. Durch die Prüfungen zeigen wir Stärke, sagte er. Die Prüfungen sind die Möglichkeit, die Gott uns gibt. Er verbarg sein Gesicht in den Händen und schloss mit diesen Worten: sinnlos. Sinnlos. Der Arzt befürchtete, dass dem Pfarrer unwohl geworden war, und so war es ja wohl auch. Doch plötzlich richtete er sich auf, schaute über die Gemeinde mit einem klaren oder klärenden Blick, schob die alten Papiere beiseite und wurde von einer neuen, mächtigen Kraft erfüllt, so wirkte es zumindest auf die meisten, die bei Veronica Mills’ Begräbnis anwesend waren. Wieder begann er von den Prüfungen zu sprechen. Er tadelte seinen Gott. Er rief, dass es nun genug sei. Wir ertrügen keine weiteren Bürden mehr. Wir könnten sie nicht länger tragen. Befreie uns von dem Bösen. Aber zuallererst: Befreie uns von deinen Unglücken. Er wiederholte dieses Gebet, das nicht länger
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