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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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ein Gebet war, sondern eine Ermahnung, eine Forderung: Lass uns in Ruhe! Wir haben genug erduldet! Du, Gott, wende dich von uns ab, wenn das die Art ist, wie du uns ansiehst! Viele waren der Meinung, der Pfarrer ginge zu weit, aber niemand war nicht erschüttert durch seine Worte. Erschöpft wandte er sich Mr und Mrs Mills zu, ebenso zweideutig wie die Klassenkameradin, doch deutlich genug für Frank, den Arzt und den Sheriff. Vergib. Vergib ihr. Sie hat die Bürden auf sich genommen. Jetzt war er zu weit gegangen. Mrs Mills stand auf und ging zum Sarg, schlafwandlerisch und verloren. Mr Mills blieb mit gesenktem Kopf sitzen, verbittert und unzugänglich, er schaute nicht einmal seiner Frau hinterher. Da verlor Mrs Mills alle Kraft und sank auf die Knie. Sie war ein Haus, das eingerissen wurde. Mrs Perkins stürzte nach vorn, brachte Mrs Mills wieder auf die Beine und half ihr das letzte Stück. Die beiden Mütter blieben neben dem Sarg stehen, die eine vollkommen zerstört, die andere noch voll Hoffnung.
    Dann trugen sie den Sarg hinaus. Es hatte angefangen zu regnen. Der Pfarrer ging durch das feuchte Gras voran. Ihm folgte eine gebeugte Reihe schwarzer Regenschirme. Die Totengräber ließen Veronica Mills in den Matsch hinunter. Die Trauerfeierlichkeiten sollten hier ihr Ende finden, am Grab, wie man annahm, doch sie gingen weiter. Mr Mills ging zu dem Pfarrer.
    »Was zum Teufel haben Sie damit gemeint?«
    »Wir fluchen hier nicht, auch wenn …«
    »Was zum Teufel haben Sie damit gemeint? Vergib ihr! Da gibt es nichts, was ihr vergeben werden müsste! Was zum Teufel haben Sie damit gemeint? Welche Sünde ist es, die meine Tochter begangen haben soll?«
    »Mr Mills, ich bedaure es aufrichtig, sollte ich …«
    »Und welche Bürden hat sie auf sich genommen?«
    »Ich habe in Bildern gesprochen, Mr Mills.«
    »Wir haben alles für unsere Tochter getan! Alles! Sie hatte keine Bürden zu tragen! Und es ist mir scheißegal, ob Sie in Bildern reden! Meine Tochter hatte keine Bürden zu tragen. Ich verlange, dass Sie das zurücknehmen. Sie beschmutzen ihre Erinnerung!«
    »Meine armseligen Worte können niemanden außer mich selbst beschmutzen.«
    Mr Mills drohte dem Pfarrer mit der Faust.
    »Ich könnte Sie verklagen. Aber ich überlasse lieber Gott das Urteil.«
    Er drehte sich um und folgte seiner Frau. Frank, der Sheriff und der Arzt musterten den Pfarrer, der im Regen fast zur Seite kippte und blicklos auf die Totengräber starrte, die Erde auf den Sarg und die Blumen schaufelten. Bald war das Loch mit Matsch gefüllt. Der Grabstein war bereits bestellt, ein Koloss aus weißem Marmor mit einem eingelassenen Bild von Veronica und einem Vogel auf der Spitze. Der Sheriff ging zum Pfarrer.
    »Fühlst du dich nicht gut?«
    »Doch. Warum sollte ich nicht?«
    »Weil du nicht gut aussiehst. Außerdem hat Mr Mills recht. Du hast dich vertan in deiner Rede. Mein Gott! Bürden!«
    »Ich hatte das Gefühl, dass es richtig ist …«
    » Gefühl ? Hier geht es um die Verzweiflung von Eltern. Um die Verzweiflung von ganz Karmack! Es klang fast so, als hättest du verkündet, dass die Tochter sich das Leben genommen hat! Und dem anderen Mädchen ist es misslungen!«
    Der Pfarrer krümmte sich, als wüsste er nicht, ob er sich verteidigen oder aufgeben sollte.
    »Mein heller Geist wirft Schatten«, flüsterte er.
    »Wie bitte?«
    »Das Mädchen. Sie hat das gesagt. Veronicas heller Geist hat Schatten geworfen. Die verstehen viel mehr als wir. Diese Jugendlichen. Viel, viel mehr.«
    »Sei froh, dass es Gott ist, der über dich urteilen soll und nicht Mr Mills.«
    Dann klingelte das Telefon des Sheriffs. Es war das St. Mary’s Hospital. Steves Vater, Martin Miller, war tot. Sie ließen den Pfarrer dort im Regen stehen und fuhren zum Krankenhaus. Keiner sagte auf dem Weg dorthin ein Wort. Frank hatte ein unangenehmes Gefühl. Das letzte Mal hatte er sich mit Martin gestritten. Jetzt war es zu spät, sich wieder zu versöhnen. Eine Krankenschwester hatte ihn leblos auf dem Stuhl neben Steves Bett gefunden, kurz vor zwölf Uhr. Der Tod konnte nicht besonders überraschend für ihn gekommen sein. Er hinterließ nämlich einen Brief. Der lag auf dem Nachttisch, zusammen mit dem Kugelschreiber, mit dem er ihn geschrieben hatte. In dem Brief stand, dass er, Martin Miller, keine Beerdigung haben wollte, seine Asche sollte über den Snake River gestreut werden, an der Stelle, an der sein Grundstück bis ans Ufer reichte. Und es stand noch

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