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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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das Ganze auf einem Missverständnis beruhte, Formalitäten sozusagen, er hatte nämlich gedacht, dass es gegen die Regeln war, engere Beziehungen mit anderen Angestellten des Rathauses einzugehen. Aber als er anrief, antwortete sie nicht. Sie öffnete auch nicht, als er bei ihr klopfte. Sie sah ihn nicht, als er draußen vor dem Majestic wartete, dem geschlossenen Kino, als hätte er eine verspätete Verabredung aus der Kindheit. Als er sich ihr auf der Treppe im Rathaus näherte, drehte sie ihm den Rücken zu, und sie kam auch in der Lunchpause nicht mehr mit einem Chickenburger zu ihm. Frank konnte nicht mehr schlafen, er sah ungepflegt aus und war übel gelaunt. Er bekam eine tiefe Scharte in seinem Herzen. War das die Liebe? Qualen und Schmerzen? War die Liebe auch ein Unfall? Ja, Frank kam zu diesem Schluss. Er war von einem Unfall betroffen, der sich von anderen Unfällen dadurch unterschied, dass er sich über lange Zeit hinstreckte. Ein langsamer Unfall. Frank dachte, hätte Steve noch gelebt, hätte der mit einer Nachricht zu Blenda gehen und ihr sagen können, dass Frank einen Unfall gehabt hatte, bei dem nur sie ihm helfen konnte, aber Steve lebte nicht mehr, und hätte er noch gelebt, wäre höchstwahrscheinlich alles ganz anders verlaufen. Die Toten sind schlechte Übermittler. Als es auf Weihnachten zuging, hielt Frank es ganz einfach nicht länger aus und beschloss, eine Nachricht für Blenda an der Rezeption zu hinterlegen. Es war schwieriger, diesen verdammten Zettel zu schreiben, als ein ganzes Protokoll zu verfassen. Stundenlang mühte er sich ab, die Worte an Ort und Stelle zu bekommen, und war dennoch nicht zufrieden. Doch irgendwann musste er sich zufriedengeben. Also brachte er Folgendes zu Papier: Liebe Blenda. Ich habe das nicht so gemeint, was ich gesagt habe, dass wir eine Pause machen sollten. Es war ein dummes Missverständnis. Zu meiner Verteidigung möchte ich sagen, dass es die Kommission war, die sich so unklar und zweideutig in dieser Beziehung ausgedrückt hat. Ich habe viel darüber nachgedacht, was du gesagt hast, ob wir bei Martin zu Weihnachten schmücken sollen. Vielleicht sollten wir es doch tun und Weihnachten zusammen feiern? Wir beide. Nur für uns, meine ich. Dein Frank. Er legte den Umschlag mit der Nachricht in einem unbewachten Moment auf ihren Tisch. Er war der Meinung, das Richtige getan zu haben. Ihm fiel nichts ein, was richtiger hätte sein können.
    Der Snake River fror zu und bildete einen Rand der Stille nach Osten hin. Im Westen landete der Himmel in einem scharfen blauen Bogen und ging dort unter die Erde. Seit dem letzten Unfall war es schon eine ganze Weile her. Konnte es dieses Mal tatsächlich so sein? Die Leute kamen zögernd auf die weißen Straßen heraus und schauten sich um. Konnte es wahr sein? Waren die schlechten Zeiten tatsächlich vorbei? Sie wagten zu lächeln. Die Einzigen, die nicht lächelten, waren Frank Farrelli und Arthur Clintstone. Da niemand umkam oder sich verletzte, gab es auch keine schlechten Neuigkeiten zu übermitteln oder Unglückstätten zu säubern. Arthur Clintstone musste Bob Spencer kündigen. Da waren es schon drei, die nicht lächelten. Frank Farrelli wurde von all diesem Müßiggang ganz deprimiert. Er fühlte sich von einer Leere umgeben. Und als Blenda ihm nicht entgegenkam und nicht einmal auf seine Nachricht antwortete, die er für sie an der Rezeption hinterlegt hatte, da war es kaum noch der Mühe wert, morgens aufzustehen.
    Doch dann sollte sich herausstellen, dass sie das raffinierteste Unglück noch vor sich hatten. Oder genauer gesagt, es war ein alter Unfall, der mit doppelter Wucht zurückkehrte und sie verhöhnte. Folgendes geschah, und ich schwöre bei Gott, dass es wahr ist: Eines Morgens drückte diejenige, von der alle glaubten, es wäre Marion, die Hand der Mutter, die immer noch dort bei ihr saß, treu und bereits um Jahre gealtert. Zuerst bemerkte sie es gar nicht. Sie war so oft enttäuscht worden, dass sie es kaum noch wagte zu hoffen. Doch dann drückte Marion erneut, und die Mutter, Mrs Perkins, sah ein Zucken in dem zerrissenen, zerstörten Gesicht. Zum ersten Mal seit dem Unglück ähnelte sie einem Menschen, einem starken, schönen Mädchen.
    »Marion«, flüsterte die Mutter.
    Das Mädchen öffnete die verstümmelten Augen und sah die Frau an, die ihre Hand hielt.
    »Mutter?«
    Das war das Erste, was sie sagte. Mutter. Und Mrs Perkins rief niemanden herbei. Sie rief gar nicht. Sie schrie

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