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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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ein Flugzeug der Swiss Air nach Brüssel nahm, nur um ein Uhrwerk zu kaufen, das man an Bord dieses Flugzeugs bekam, eine einfache Mondaine, mit roten Sekundenzeigern, ich liebte es, zuzuschauen, wie sie die weiße Ziffernscheibe umrundeten, ununterbrochen. Übrigens hatte ich in Brüssel nichts zu tun, aber ich musste aufgrund irgendwelcher Verspätungen eine Nacht dort verbringen, und alle meine Uhren, alle meine Sekundenzeiger waren schließlich doch zu nichts nutze und vergeblich. Da kam ich auf die Idee, ich könnte eine Person finden, die Heidi hieß, ein Mädchen, das ich in einem Sommer kennengelernt hatte, vor so langer Zeit, dass ich beinahe sie und den ganzen Sommer mit der Zeit vergessen hatte. Aber jetzt erinnerte ich mich zumindest daran, dass ich ihr etwas versprochen hatte, und alles, was ich verspreche, muss ich auch einhalten, früher oder später muss ich es einhalten, sonst halte ich es nicht aus. Sie arbeitete hier. Das stand zumindest auf einer Karte, die sie mir geschickt hatte. Auch das war schon viele Jahre her. Wie das meiste. Wozu sollte das gut sein? Ich wusste es nicht. Das war nur ein Teilchen, das sein Puzzlespiel noch nicht gefunden hatte. Nein, das war ein Puzzlespiel, das seine Teilchen noch nicht gefunden hatte. Es war nur die Wolke, die ihren Himmel nicht gefunden hatte. Ich glaubte, ein ganzer Mensch werden zu können, indem ich die Leerräume in mir ausfüllte. Doch das Gegenteil war der Fall. Je mehr ich ausfüllte, desto leerer wurde ich, alles, was ich aufnahm, höhlte mich aus, und alles, was ich ausspuckte, bedrückte mich mehr und mehr. Wieder einmal wurde mir klar: Es ist zu viel Inhalt in dieser Welt. Die Welt zieht dich nach unten. Es ist kein Platz in einem Menschen, in einem einzelnen Menschen für all das. Ich sehnte mich nach Oberflächen. Ich sehnte mich nach einer Chronologie. Ich sehnte mich nach einer Schachtel, in die ich alles legen konnte. Doch die Welt ist wie gesagt aufdringlich und unverschämt. Die Welt gibt sich nicht so schnell zufrieden. Also lief ich von Büro zu Büro, von einem Gebäude zum anderen, ich wurde weitergeschickt, von Flur zu Flur, immer tiefer hinab in die Grotten der Rezeptionen, wo die Toten mit Sonnenbrillen im Dunkel Wache standen und eine Sprache sprachen, die nur sie selbst verstanden und die sie deshalb in Laute und Grammatik übersetzen mussten, die sie gleich wieder vergessen hatten. Wie hieß die betreffende Person noch? Heidi Alm, nein, sie ist wohl von uns gegangen. Von uns gegangen? Ist sie tot? Nein, alle, die nicht hier sind, sind von uns gegangen. Sie hat wohl einen Posten beim norwegischen Konsulat in New York bekommen. Ich fuhr heim und mir fiel etwas ein, was ich gelesen hatte: Im Hauptquartier der EU werden jeden beliebigen Tag mindestens achtzigtausend Seiten geschrieben. Und irgendwo in dieser unwahrscheinlichen, verzwickten Sprache befand sich auch mein Roman, es ging nur darum, die Worte zu finden und sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Die Worte gibt es! Die Buchstaben gibt es! Sie hatten sich nur verirrt. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt verlor ich den Verstand. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, wie ich mich aufführte, aber es machte keinen guten Eindruck, das heißt, ich machte keinen guten Eindruck, denn das Verhalten und der Mensch können nicht getrennt werden, ich war mein Verhalten und mein Verhalten war wahr. Ich hatte zu wenig Fett im Gehirn. Die einzige feste Nahrung, die ich zu mir nehmen konnte, war Trockenspiritus. Die Tage gingen ineinander über, wie eine Kreuzung, auf der nur die gelben Lichter im Nebel leuchten, und eines Morgens, oder war es eines Abends, aber das kann auch gleich sein, warf ich alles, was ich an Notizen, Kladden, Gedichten, Entwürfen, Liedern und Skizzen hatte, in den Kamin, zündete ihn an, und zum Schluss kippte ich die Tüte mit den Passbildern ins Feuer. Dann setzte ich mich gemütlich in die Wärme all der Gesichter, die ich verloren hatte, und all der Bücher, die ich niemals schreiben würde. Sie wollten mich ja sowieso nicht haben, diese eitlen Bücher. Da wusste ich, wie mein wahres Gesicht aussieht: das Gesicht, das am Grunde des Brunnens zum Vorschein kommt, das Gesicht, das ich austrinken konnte. Jemand griff ein. Ich war nicht imstande, selbst einzugreifen. Zum Schluss fanden die Ärzte eine Unregelmäßigkeit in meiner Urteilskraft, eine Scharte in meinem Willen, oder war es in meinem Wesen? Ich bewege mich ruckartig. Ich habe keine Übergänge. Ich

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