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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Schlange war ungeduldig geworden, auch Jimmy Stout nicht, niemand hatte es mehr eilig. Ich trat vor und lieferte meinen Pass ab. Was war der Grund meines Aufenthaltes? »Freunde besuchen«, antwortete ich. Der Beamte wollte Papiere sehen, auf denen stand, wo ich wohnen würde. Ich gab ihm die Formulare von Sheppard P. Er schaute sie lange an, sah dazwischen immer wieder mich an, wandte sich einen Moment lang ab und sagte etwas leise in das Mikrophon, das er an der Schulter befestigt hatte. Kurz darauf kamen drei Beamte und führten mich resolut weg, während der Mann hinterm Schalter meinen Pass und die Formulare behielt. Ohne ein Wort wurde ich in einem kahlen Raum platziert, in dem sich nur drei Stühle und ein kleiner Tisch befanden. Dort blieb ich sitzen, bis ich es nicht mehr schaffte, weiter die Sekunden zu zählen. Warum war ausgerechnet ich herausgesucht worden, ich und niemand sonst? Sie hatten doch Hunderte von Soldaten, zwischen denen sie hätten wählen können. Ich war mir ganz sicher, dass mindestens einer von ihnen früher oder später explodieren würde, vielleicht Jimmy Stout, der Junge, der entweder die Augen schloss oder mich mit aufgerissenen Augen und einem trüben Zielfernrohr anstarrte. Anders kann ich es nicht beschreiben. Seine Augen waren zu einem Zielfernrohr geworden. Plötzlich wurde ich vom Jetlag und einer gestrichen vollen Angst übermannt. Mein Mund wurde ganz trocken, der Schlund begann zu brennen. Ich schlug mit aller Kraft mit dem Stock, den ich von meinem Vater geerbt hatte, auf den Tisch. Dann kamen endlich die Beamten zurück, in ihrem Gefolge ein Mann, der nach allem zu urteilen ein Vorgesetzter sein musste, aber alle waren ja mir gegenüber sowieso vorgesetzt. Er setzte sich und legte die Papiere und meinen Pass zwischen uns auf den Tisch. »Sheppard P? Dorthin wollen Sie?« Ich nickte. »Kommt jemand Sie abholen?« »Morgen früh.« »Und wo werden Sie heute Nacht schlafen?« »Im Hotel Plaza. Ich habe dort ein Zimmer bestellt.« Der Vorgesetzte schwieg eine Weile, blätterte erneut in den Papieren, dann schaute er mich wieder an und sagte die Worte, die sich schon seit Langem in mir festgebrannt hatten, ein tätowiertes Echo. »Kommen Sie allein zurecht?« Was hätte ich antworten sollen? Ich hätte sagen können, er solle lieber die Soldaten das Gleiche fragen. Kamen sie allein zurecht? Ich schaute zu Boden, verlegen, und sagte: »Ich glaube schon.«
    Sie ließen mich gehen. Ich nahm ein Taxi zum Hotel, einem umgebauten Lagerhaus unten am Hafen. Dort öffnete ich die Minibar, übrigens die größte Minibar, die ich jemals gesehen hatte, und ich habe schon viele gesehen, stellte mich ans Fenster und trank, bis nichts mehr übrig war. Ich bewahrte die Korken nicht auf. Ich dachte: Das ist mein letztes Hotelzimmer. Das sind meine letzten Drinks. Ich hatte den Blick der anderen erwidert, nicht jedoch Jimmy Stouts Blick, denn mit ihm war ich auf einer Wellenlänge, wir kamen aus der Schlacht und wir sollten hinaus in die Schlacht, auch wenn das, wofür er gekämpft hatte, edler war als das, was ich überwinden sollte, die Armee meiner schlechten Gewohnheiten. Er war einer von mir. Anders kann ich es nicht sagen. Ich war einer von ihm. Es waren die Blicke der Beamten und der Vorgesetzten, die ich erwidert hatte. Ich war wie ein anderer angesehen worden, nein, nicht wie ein anderer, das hätte ich gut ertragen können, sondern wie einer, mit dem etwas nicht stimmte, der nicht der war, der er hätte sein sollen, der nicht hierher gehörte. Vielleicht war ich ja immer schon so angesehen worden, aber erst jetzt konnte ich die Blicke der anderen selbst sehen. Kam ich allein zurecht? Ich wusste es nicht mehr. Eine Fähre fuhr zwischen den Piers herein. Glänzende Laternen hingen in Reih und Glied im Dunkel, sie glitten vorbei. Ich spürte den Drang zu lachen. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, welche Jahreszeit es war. Es hatten sich keine Jahreszeiten in mir gesammelt, nur Zeit, die stillstand. Ich öffnete das Fenster und hörte aus allen Richtungen Musik, Blasmusik und fröhlichen Jazz, es war Abend in Baltimore, es war der große Krebsabend. Ich schaute auf die Promenade entlang dem Hafenbecken hinunter. Mein Zimmer lag im siebten Stock. Jemand rief mich von der Rezeption an und fragte: »Wie lange werden Sie bleiben?« Ich antwortete: »Wie lange kann ich nicht bleiben?«
    Am nächsten Morgen wurde ich von einem Pfleger abgeholt, Bill, Mister Bill, ein großer schwarzer

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