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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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hin, soweit überhaupt etwas bei mir freiwillig geschieht. Ich nahm das Flugzeug nach Baltimore. Auf dem Weg dorthin kaufte ich meine letzte Uhr, eine Sportuhr mit Ziffern und Zeigern, Datum, Pulsmesser, Kalender, Alarm, Kompass und GPS , sie konnte vierhundert Meter Druck aushalten und höhere Höhen, als die Gebirge der Welt zusammen aufwiesen. Beiliegend bekam ich eine Gebrauchsanweisung von 200 Seiten in acht Sprachen. Ich bereute es bereits. Alles mit einer Gebrauchsanweisung ist nichts für mich. Ich drückte auf alle Knöpfe, die man drücken konnte, und es waren mindestens vier, ohne dass etwas geschah, abgesehen davon, dass ein Licht an und aus ging, aber was sollte ich mit Licht, wenn ich keine Zeit hatte? Die digitalen Ziffern waren auf der schwarzen Scheibe eingetrocknet und die Zeiger hatten sich zu einem scharfen, senkrechten Strich vereint, weder Schere noch Flügel. Ich gab auf und konnte mich nicht entscheiden, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Es war jedenfalls ein schlechtes Zeichen, dass ich mich nicht entscheiden konnte, ein sehr schlechtes. Dann konnte ich auch nicht meine Verhaltensregeln benutzen. Ich war den Launen des Zufalls ausgeliefert. Bereits auf dem Flughafen in Baltimore war ich ausgeliefert. Es geschah dort etwas, was zu erzählen ich fast gezwungen bin. Es geschah nämlich, dass ein Trupp Soldaten gleichzeitig mit mir landete. Sie kamen von ihrem Einsatz. An der Passkontrolle stand ich in der Schlange zwischen ihnen. Ich versuchte Freude in ihren Gesichtern zu entdecken, bei diesen Männern und Frauen, die lebendig heimkehrten und nicht in Fahne und schwarzes Plastik eingewickelt. Doch ich fand sie nicht. Ich fand keine Freude. Ich fand nicht einmal ihre Gesichter. Ihre Gesichter waren auch getarnt. Der Sand und die Sonne hatten sich in der Haut und den Augen festgewachsen, eine unmögliche Maske. Sie ähnelten einander zum Verwechseln, diese Jungs und Mädchen, sie hatten ihr Alter irgendwo im Krieg verloren. Und während wir Hurrarufe, Gelächter und Gesang in der Ankunftshalle hören konnten, von denen, die auf die Soldaten warteten, Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Liebste, Freunde, Nachbarn, alle, mit denen einen Menschen etwas verbindet, sah ich bei den Soldaten, diesen gewöhnlichen Soldaten, nichts anderes als Erschöpfung, eine Art erschöpfter Trauer, und ich dachte: Was können sie mit dieser Trauer anfangen, wer wird ihre Erschöpfung mit Sinn erfüllen? Da legte mir jemand seine Hand auf die Schulter. Ich drehte mich um und begegnete dem offenen, verletzten Blick eines uralten Jungen. Es schien, als hätte er die Augen seit mehreren Monaten nicht geschlossen. Er hieß Jimmy Stout, das konnte ich auf dem Schild auf seiner Uniformbrust lesen, keine Medaillen, nur sein Name, Jimmy Stout. Ein winziges Gramm meiner Erinnerung überfiel mich und erzeugte einen Riss in allem, was ich verloren hatte, und in diesem Riss sah ich ihn, Jimmy Stout, den heimgekehrten Soldaten. War er etwa kein alter Bekannter, ein junger und alter Bekannter, ein Soldat? War er etwa nicht einer der Meinen, einer meines Volkes, auch wenn ich ihn nie zuvor gesehen, nur von ihm gehört hatte? Jetzt stand er hier, in der Schlange vor der Passkontrolle auf dem Baltimorer Flughafen. Es währte nur einen Moment. Doch in diesem Riss sah ich alles, was größer war als ich, ich sah einen Zipfel von allem, was verloren gegangen war, und in dem Schatten von allem, was größer als ich selbst war, kam ich zu kurz und war selbst nicht mehr als ein Schatten, ein Stich. Dann schloss sich die Wunde wieder, wie eine Operationswunde, das Kielwasser. Ich empfand so großes Mitleid mit ihm, solch überwältigende Zärtlichkeit, dass ich ihn fast in die Arme genommen hätte, ich, der doch keinen Sohn hat und niemandes Vater ist. »Afghanistan?«, fragte ich. Der Junge nickte. »Du bist sicher froh, wieder zu Hause zu sein?« »Ich bin noch nicht zu Hause.« »Nein, das stimmt.« »Ich kann mich immer noch anders entscheiden.« »Wieso anders?« »Ob ich nach Hause gehen will oder nicht.« Mir kam die Idee, ob er vielleicht meine neue Uhr zum Laufen bringen könnte, doch er schüttelte nur den Kopf, als ich sie ihm zeigte. Er, der Jimmy Stout hieß, sagte nichts weiter. Er schaute zu Boden, und es schien, als hätte er sein Gesicht ein für allemal verschlossen. »Wolltest du etwas von mir?«, fragte ich. Er nickte und zeigte nur zum Schalter. Ich war an der Reihe. Schon lange. Aber niemand in der

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