Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
war. Aber eine Szene aus Bergmans Film, an die erinnerte er sich. Das kannst du nach der Beerdigung auch sagen, sagte Vater. Pisse, Kacke und Scheiße. Dann lachten wir, bis die Krankenschwester kam und ein Morphiumpflaster in seiner Halsgrube befestigte. In den kurzen Momenten, in denen die Schmerzen abnahmen, bevor er in einen blauen Dämmerzustand glitt, ich stellte mir jedenfalls vor, dass er blau war, und diese Momente wurden immer kürzer, da redeten wir gern miteinander, das heißt, ich war derjenige, der meistens sprach, über das Wetter, über Weihnachtsgeschenke, über einen Roman, den ich gerade schrieb. Es sollte mein persönlichster Roman werden, und gleichzeitig sollte er so weit wie möglich von mir entfernt spielen, so weit weg, dass ich unsichtbar wurde. Ich hasste die Worte bereits, als ich hörte, wie sie aus meinem Mund kamen. Persönlich! Persönlicher Roman! Sollte ich nicht lieber das Gegenteil anstreben, das Unpersönliche, einen unpersönlichen Roman zu schreiben, so nah an meiner Person wie nur möglich? Vater versuchte sich aufzusetzen, vergeblich, und ich half ihm wieder in die Kissen zurück. Schade, dass ich ihn nie werde lesen können, sagte er. Dann war er nicht mehr in der Lage, die magere Hand zu heben, um das Pflaster in der Halsgrube zu betasten, das mich an die kleinen Papierstückchen erinnerte, die er auf die Wunden drückte, wenn er sich morgens beim Rasieren geschnitten hatte. Dann kam es vor, dass auch ich Papier auf meinem glatten, weichen Kinn befestigte. Ich wollte auch erwachsen sein. Ich wollte die Kindheit loswerden, wollte sie überstanden haben. Ja, sagte Vater. Ich weiß nicht, was er eigentlich bejahte. Seine Hand blieb auf der Bettdecke liegen. Ich erkannte sie nicht wieder. Seine Hand war mir fremd geworden. Bald würde ich ihn nach nichts mehr fragen können. Bald war seine Geschichte zu Ende. Ich würde seine Erinnerungen übernehmen. Übrigens nagte noch etwas anderes an mir, ich fragte mich nämlich, was eigentlich in dem Sommer der ersten Mondlandung passiert war. Hatte er sich wirklich das Bein gebrochen? Vater schaute mich in einem letzten klaren Augenblick an. Natürlich habe ich das! Du und deine Fantasie, du Dummkopf! Pisse, Kacke und Scheiße! Hurra! Wir lachten ein letztes Mal zusammen.
Er starb am Neujahrstag. Mutter saß bei ihm. Mutter saß immer bei Vater. Ihr ganzes Leben lang. Als die Zeremonie in der Kapelle vorüber war, fuhren wir in einem Taxi nach Hause. Ich wollte an meinem Roman weiterschreiben. Wie gesagt, ich war gut in Fahrt. Ich hämmerte auf die Tasten ein. Nichts geschah. Ich versuchte es von Neuem. Wieder geschah nichts. Ich versuchte es ein drittes Mal. Das durfte doch nicht wahr sein. Immer noch geschah nichts. Der Roman war zu Ende. Alles, was ich sah, das war ein schwarzer Schirm, wie ein tiefer, leerer Brunnen, in dem nicht einmal mein Gesicht zum Vorschein kam. Dennoch glaubte ich nicht, dass es wahr sein konnte. Doch es war wahr. All das, was nicht passieren darf, ist meistens wahr. Am nächsten Tag rief ich einen Computerexperten. Er saß stundenlang über die Maschine gebeugt da. Dann nahm er die Festplatte mit. Ich therapierte mich eine Woche lang selbst. Dann kam er zurück. Er kam ohne Hoffnung und mit der Festplatte in einer versiegelten Tüte, der Urne des Romans, dachte ich, und einem schriftlichen Bericht in einem weißen Umschlag, dem Totenschein: Physischer Status: Festplatte meldete: not ready. Die Einheit wurde trotzdem in unseren Reinraumlabors geöffnet und überprüft. Das Ergebnis: Headcrash aller Schreibleseköpfe im ganzen Sektor. Ein Headcrash ist ein Schaden der Schreibleseköpfe und der Speichermedien, als Folge eines physischen Kontakts zwischen diesen. Daten der beschädigten Bereiche können nicht rekonstruiert werden. Es sind nur noch Späne und Staub zu finden. Aber meinen Roman finden Sie doch, rief ich. Nein, der ist verloren. Sie haben doch sicher ein Backup? Ich hatte kein Backup. Ich hatte nie ein Backup gemacht. Es war mein Fehler. Und noch schlimmer: Es war meine Schuld. Ich hatte zu viele Geheimnisse preisgegeben. Deshalb drehte der Roman mir jetzt den Rücken zu. Deshalb wollte er mit mir nichts mehr zu tun haben. Er wies mich ab. Er bestrafte mich. Jetzt war nichts mehr preiszugeben. Ich konnte es in die Welt hinausschreien: Ich habe nichts zu erzählen! Ich habe bekommen, was ich verdiene. Ich war ein schuldiger Mensch. Noch einmal versuchte ich von vorn anzufangen, dieses Mal per Hand,
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