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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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bin ein plötzlicher Mensch. Nichts an mir ist beständig. Ich brauche nicht einmal den Wind, um mein Mäntelchen zu wenden. Ich bin im Zeichen der Peinlichkeit geboren. Ich trage immer noch die Röte vom Johannisbeerkraut im Obstgarten meiner Kindheit an mir. Diese Unregelmäßigkeit machte mich ungeeignet für die gute Gesellschaft. In schlechter Gesellschaft war es noch schlechter um mich bestellt, obwohl ich mich dort wohler fühlte. Und in meiner eigenen Gesellschaft war es ganz einfach unmöglich, mit mir auszukommen. Aber das war im Grunde genommen nichts Neues. So war ich wohl schon immer gewesen. Alles an mir wurde langsam alt. Das Neue daran war, dass das Alte einen Namen bekam. Habe ich es nicht schon erwähnt, dass niemand sich stärker erneuern muss als diejenigen, die sich selbst wiederholen. Als ich jünger war, nannte ich das meine Scharten. Als ich älter wurde, bezeichnete ich meine Scharten als meine Grabenränder. An ihnen bin ich mein ganzes Leben lang entlangbalanciert. Jetzt fiel ich. Was mich verwunderte: Es tat nicht weh. Nun erhielt ich also die Diagnose, nicht viel anders als die Analyse des Computerfachmanns: Headcrash. Jetzt bekam ich den richtigen Namen, ein Syndrom, das Syndrom, an dem ich litt, aber ich ertrug es nicht, ihn zu hören, noch weniger, den Namen zu sagen, also taufte ich es augenblicklich um, wie ich alles umschreibe, in meine eigene Sprache, zu Chaplins Syndrom, mein Chaplins Syndrom.
    Medikation: 100 mg Zoloft, 50 mg Lamictal. Nebenwirkungen: Ausschlag, Anschwellungen im Gesicht, Doppelbilder, Ungeschicktheit, Augenzittern, Durchfall, Übelkeit, Mundtrockenheit. Spielt keine Rolle, sagte ich, so geht es mir ja schon immer. Außerdem, fügte der Arzt hinzu, außerdem besteht die Gefahr, dass Sie die Lust zu schreiben verlieren. Spielt auch keine Rolle, wiederholte ich. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Die Romane haben auch keine Lust mehr auf mich.
    An diesem Tag fuhr ich mit dem Taxi vom Krankenhaus heim. Der Fahrer war in meinem Alter. Er hatte etwas Bekanntes an sich. Und ganz richtig, wir waren auf die gleiche Volksschule gegangen, und jetzt sollte ich hören: Am letzten Wochenende hatten die alten Jungs von Uranienborg ein Fest gefeiert, und einer fing an, über meinen Roman zu diskutieren, wie hieß er noch gleich, na der, der von ihnen handelte, von uns, nicht wahr, und alle waren sich einig, dass der Autor, also ich, ihnen ihre Geschichten geklaut hatte, denn während sie abends losgezogen und die Mädchen aus der Parallelklasse aufgerissen, Automarken am Vestkanttorget geklaut, wilden Wein in der Gabelsgate geraucht, Straßenlaternen am Drammensveien zertrümmert, sich in die Soiree in Vestheim eingeschlichen oder so viel gesoffen hatten, wie man im Laufe eines Abends nur saufen konnte, da hatte ich einfach zu Hause gehockt und geschrieben und mit allem angegeben, was zu unternehmen ich mich nie traute. Ich war doch nirgends mit dabei gewesen, oder? Und wusste ich eigentlich, dass ich Mamasöhnchen genannt worden war? Da beugte ich mich zwischen den Sitzen nach vorn und sagte, nein, ich rief es, fast triumphierend: Ich habe Chaplins Syndrom, verdammt noch mal! Lass mich hier raus! Er ließ mich raus, beleidigt, aber ich gab ihm reichlich Trinkgeld und ging das letzte Stück nach Hause, beide Füße nach außen gerichtet, die Gangart meiner Kindheit, indem ich meinen Fehler verdoppelte, konnte ich ihn verbergen. Ich war glücklich, denn endlich war ich alt genug, um einen Stock zu benutzen. Übrigens gefällt mir der Gedanke, dass es ein Taxifahrer war, dem ich als Erstes von meinem Chaplins Syndrom erzählte habe. Dann musste ich es niemandem sonst erzählen.
    Meiner Mutter sagte ich, ich müsse für eine Weile verreisen, vielleicht für eine ziemlich lange Weile. Es hätte etwas mit einem Roman zu tun, log ich. Warum sollte ich ihr die Wahrheit sagen, diese überbewertete Wahrheit, warum sollte ich ihr noch mehr, noch größere Sorgen bereiten? Außerdem war es keine Lüge, alles, was ich tat, hatte etwas mit einem Roman zu tun. Alles tauschte ich in die Valuta der Fiktion ein. Ich wollte noch mehr sagen, aber sie legte mir nur die Hand auf die Wange und unterbrach mich. Man muss nicht alles wissen, sagte sie, und begann mit einem zweiten Satz, den sie aber nicht zu Ende brachte, sie unterbrach sich selbst, oder sie fand nicht wieder zurück, aufs Gleis des Satzes, und dabei beließen wir es.
    Dann wurde ich also im Sheppard P aufgenommen. Ich ging freiwillig

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