Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
mehr wie Geschwätz in meinen Ohren. Es konnte möglich sein. Es war nur eine von vielen Möglichkeiten, die diese aufgeblasene und überschätzte Wirklichkeit zu bieten hatte. Und es würde bedeuten, dass der Sommer 1969 nur einer in einer langen, vielleicht unendlich langen Reihe von Sommern gewesen war, die immer in den gleichen Monaten, in den gleichen Ferien stattfanden. War mir nicht schon selbst der Gedanke gekommen? Dass es Iver Malt gar nicht gab, dass er keinen Halbbruder hatte, dass ich ihm nie begegnet war und dass dieses Mädchen, das mir nicht aus dem Kopf ging, die Erste, mit der ich es nicht machte, nur ein Traum war? Ich wurde ganz unruhig davon, unruhig zu werden. Diese vermaledeite Wirklichkeit bot zu viele Wahlmöglichkeiten. Konnte sie sich nicht wenigstens mit zweien zufriedengeben, eine, die du mit anderen teilst, und eine, die du für dich selbst behältst? Und, unter Zweifeln, noch eine: die du schreibst. »Aber wo sind sie dann gelandet?«, fragte Gimmy Jimmy. In einem Studio in Hollywood natürlich, antwortete Housewife Gin & No Tonic. Oder auf Island. Da nahm das Gespräch eine neue Wendung, durch Tinker Taylor: Wir sind alle Mitglied im Kanonenverein, sagte er. Stille im Wohnzimmer von Sheppard Pratt. »Kanonenverein? Was für ein Kanonenverein?« Wir wollten zumindest wissen, in welchem Kanonenverein wir Mitglied waren. »In dem Kanonenverein, der hier in Baltimore direkt nach dem Bürgerkrieg gegründet wurde«, fuhr Tinker Taylor fort. »Was für eine Art von Verein ist das?« »Eine militärische Loge. Bedingung, um Mitglied werden zu können, ist, eine Kanone erfunden zu haben oder etwas, das eine Kanone verbessert, oder in Ermangelung einer Kanone erst einmal eine andere Schusswaffe. Aber diejenigen, die nur einen Revolver mit fünfzehn Schuss oder einfache Bajonettgewehre erfanden, genossen nicht das gleiche Ansehen wie die Artilleristen. Und die Achtung, die sie erreichten, war abhängig von der Größe der Kanonen und der Reichweite des Projektils.« Wieder Stille am Tisch. Die Stimmung war schlecht. Endlich: »Was hat das mit der Sache zu tun?«, fragte Windshield Linda, olympische Meisterin in der Jolle. Tinker Taylor schaute in die Runde, als wären wir die unbegabtesten und unwissendsten Menschen, die er jemals vor sich gehabt hatte, was sicher im Bereich des Möglichen lag. »Das wisst ihr doch nur zu gut! Der Kanonenverein in Baltimore war der erste, der Menschen auf den Mond geschickt hat. Am 12. Dezember 1881. Vom Hügel bei Stone Hill. Leider ging es schief.« »Was ging schief?« Tinker Taylor schaute zu Boden. »Das Projektil mit Nicholl, Barbicane und Ardan, Gott sei ihren Seelen gnädig, an Bord, erreichte nie sein Ziel. Sie kreisen heute noch im Universum herum, gefangen von der Anziehungskraft des Mondes.« Windshield Linda lachte laut. »Dann ist das Ganze also von vorn bis hinten schiefgegangen?« »Das würde ich nicht behaupten. Durch die Reflektoren in Long’s Peak wird das Fahrzeug alle zwanzig Jahre observiert. Und wie die Gelehrten sagen: Unser Sonnensystem ist durch einen neuen Stern bereichert worden.« »Was hat diese blöde Geschichte mit uns zu tun?« »Wir sind es, die um den Mond kreisen«, schloss Tinker Taylor ab. Dieser Gedanke gefiel uns nicht, ganz und gar nicht, der Gedanke, dass wir uns in einer Kapsel befänden, war ein gigantischer Gedanke, den zu denken für uns nicht zweckdienlich war. Es brachte uns in keiner Weise weiter. Wir waren boshaft und gefährlich, zumindest ich, denn ich kann nur für mich selbst sprechen und in meinem Namen. Ich weiß nicht, was andere denken. Ich weiß nichts darüber, was sie sehen. Ich weiß nur, was ich sehe, und kann auch nichts anderes wissen als das, was ich denke. Folgendes sah und dachte ich: Sister Sorrow und Mister Bill sollten eingreifen, und dazu hatten sie allen Grund. Da legte Lovely Rita, die immer noch an George Harrison dachte, der die katholische Schule besucht hatte, in die sie ging, um nach dem Konzert, das die Beatles am 4. Oktober 1964 in Baltimore gegeben hatten, Frieden zu finden, sie legte ihre schweren Schuhe auf den Tisch und kam allen zuvor, als sie sagte: »Klettverschluss!« Es war das erste Wort, das ich von ihr hörte. Klettverschluss! Sie musste es erklären. Was hatte ein Klettverschluss mit der Sache zu tun? Reichte es nicht auch so? Der Klettverschluss war das Beste, was bei der Mondreise herausgekommen war, ganz gleich, wo sie nun gelandet waren. Die Astronauten trugen
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