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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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als ein freundlicher Mann. »Es ist lange her, dass ich eine Schreibmaschine gesehen habe.« »Die ist nur zur Dekoration«, sagte ich. »Der Stock auch?« Ich verstand nicht ganz, was er meinte. »Der Stock auch? Ist der auch nur zur Dekoration?« »Ich habe einen verletzten Fuß«, sagte ich. »Außerdem wird eher auf mich Rücksicht genommen, wenn ich einen Stock benutze.« »Haben Sie das Gefühl, es wird nicht genug Rücksicht auf Sie genommen? Dass Sie schlecht behandelt werden?« »Ganz im Gegenteil. Ich würde Ihnen empfehlen, auch einen Stock zu benutzen, je früher desto besser.« Schließlich kam Dr. Feel zur Sache, also zur Schweigepflicht. Wenn man, nachdem man entlassen worden war, die Identität eines der Bewohner verriet, konnte das eine Geldstrafe nach sich ziehen, im schlimmsten Fall Gefängnis. Auch das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Bereitwillig unterschrieb ich noch einmal. Ich schaute mich im Zimmer um. Auf diese Art verschwinde ich. Auf dem Bücherregal entdeckte ich Moby Dick. Zwischen all der Fachliteratur, Fotos der Familie, Kuscheltieren und Ehrengaben von diversen Universitäten auf der ganzen Welt, stand Herman Melvilles wütender Roman, und ich konnte nicht umhin, an den Sommer zu denken, an dem ich einen Jungen traf, der Iver Malt hieß, vor mehr als vierzig Jahren, der nicht lesen konnte und dem ich die Geschichte erzählen musste, auf meine mangelhafte Art und Weise. Plötzlich wurde ich alt. Ich sagte: Kann Schweigepflicht nicht ebenso schön sein wie Meinungsfreiheit?
    Nein, das sagte ich nicht, ich dachte es nur, und ich fragte stattdessen: »Kann mir jemand sagen, über was ich das Recht habe zu schweigen?«
    Aber lasst mich zur Sache kommen, bevor ich fertig bin:
    Über Folgendes hatte ich das Recht zu schweigen: Sechs Monate lang war ich in Sheppard P. Jeden Freitag um 15.00 Uhr bekamen wir Besuch von Bob. Alle mochten Bob. Es war einfach unmöglich, Bob nicht zu mögen. Und wenn jemand Bob nach meiner Beschreibung wiedererkennt, gehe ich bereitwillig ins Gefängnis. Bob war ein in die Jahre gekommener Golden Retriever, der uns beruhigen sollte. Da hatte er bereits die Runde durch die ganze Institution gemacht und zitterte vor Erschöpfung. Das hieß pet therapy. Ich glaube eher, es war Bob, der bei uns in Therapie ging, human therapy für das erschöpfte Tier. Bob lag platt zwischen unseren Füßen, während wir im Kreis saßen und ihn vorsichtig mit beiden Händen streichelten. Der Hund sah keinen Unterschied zwischen uns. Der Hund sah Menschen. Ich durfte ihn sogar mit meinem Stock hinter dem Ohr kraulen, und Bob war hochzufrieden. Nur noch eins, wie bekam ich eigentlich den Namen Scrabble? Ganz einfach: Freizeit. Freizeit ist mit das Schlimmste, was wir haben. Es ist ein Fegefeuer, die Freizeit. Die Freizeit ist nichts anderes als eine Verschwörung, und in jeder einzelnen Sekunde dieser Freiheit sind wir bedroht. Die Zeit ist ganz einfach ein Komplott, gegen uns gerichtet. Wenn wie glaubten, es gelänge uns, die Zeit auf Abstand zu halten, lag sie bereits im Hinterhalt und machte Liegestütze, bereit zu neuen Angriffen und einfachen Überfällen. Die Zeit war ein Taschendieb, ein Wegelagerer, ein Fälscher, der ungültige Kalender ausstellte. In solchen Bahnen dachten wir. Wir? In solchen Bahnen dachte ich, aber bald wurde ich zu wir, wir, die wir auf The never ending fake it till you make it-Tour waren. In schlechten Momenten, und das waren glücklicherweise die meisten, war es trotz allem erträglich. Doch wenn wir unsere guten Momente hatten, vielleicht ein Morgen mit sanftem Licht, das die Eichen über uns ausstreuten, wenn wir in Reih und Glied spazieren gingen und nichts Böses ahnten, dann kam es vor, dass wir so übermütig und ungestüm wurden, dass es richtig schiefgehen konnte. Es waren die Optimisten unter uns, die alles kaputtmachten. Housewife Gin & No Tonic hatte in so einem Moment beispielsweise beschlossen, dass die Mondlandung 1969 der reinste Bluff gewesen sei. Wie konnte denn die Flagge waagerecht auf dem Mond wehen, wenn es dort oben doch gar keinen Wind gab? Und die Schatten? War das jemanden sonst aufgefallen? So, wie die Sonne am 20. Juli 1969 auf den Himmelskörper geschienen hatte, hätte der Schatten der Astronauten in eine ganz andere Richtung fallen müssen. Das war bewiesen. Von wem? Von denen, die es bewiesen hatten! Überlegt doch mal, sagte Housewife Gin & No Tonic. Dieses Geschwätz machte mich unruhig. Denn plötzlich klang es nicht

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