Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
aufstehen?«
»Doch.«
»Es ist schon nach neun Uhr. Du bist doch nicht krank?«
»Ich denke.«
Die Sonne schien durch die Gardinen und traf Mutter, die in der Tür stand, wie üblich besorgt. Es schien, als wollte das Licht auch durch sie hindurchfließen, als ob es auf keinerlei Widerstand stieß, als gäbe es sie ganz einfach gar nicht.
»Denkst du auch im Schlaf?«
»So ungefähr. Und wenn man im Schlaf denkt, dann heißt das träumen.«
Mutter trat ans Fenster und stellte sich davor. Sie wirkte immer noch fern, undeutlich. Befand sie sich auch in ihrer eigenen Welt? Wie viele Welten gab es? Es mussten ebenso viele sein, wie es Menschen gab. Plötzlich war ich schlecht gelaunt.
»Wovon träumst du?«
»Von dem Scheißmond.«
»Ich bitte dich, Chris. Rede ordentlich.«
»Fahnenmast. Plumpsklo, Feuerquallen. Karpfenteich. Hummeln im Rhododendron.«
Mutter blieb dort stehen, an den Fensterrahmen gelehnt, und ließ mich weiterspinnen, bis mir nichts mehr einfiel. Es gab natürlich noch eine ganze Menge mehr, was mir hätte einfallen können, aber das wollte ich lieber für mich behalten. So hätte ich beispielsweise von der Offenbarung auf der Prinsen während der Überfahrt erzählen können, als sich die Zukunft mir wie eine Reihe von Türen öffnete und die Vergangenheit sich hinter mir schloss, in einer Symmetrie, die den Wellen ähnelte, die sich in einem Fächer vor dem Bug entfalteten, nur umgekehrt. Aber wie gesagt, ich war so geschaffen, dass mir im nächsten Augenblick alles nur noch schwarz erscheinen konnte. Nichts war beständig an mir. Deshalb erwähnte ich das nicht. Ich hätte auch sagen können, dass ich davon geträumt hatte, ein Schriftsteller zu werden, dass dieses der einzige Plan war, den ich für mein Leben hatte, doch auch das zu sagen war mir nicht möglich. Ich hätte sagen können, dass ich bereits ein Schriftsteller war und jetzt von Ruhm und Bewunderung träumte. Denn ich hatte meiner Mutter nichts davon erzählt, dass ich ein Gedicht an eine Zeitschrift geschickt hatte, die »Kvinner og Klær« hieß, Frauen und Kleider, und die sie jeden Dienstag kaufte. Dort gab es eine Spalte, in der sie Gedichte von Lesern abdruckten, das heißt, von Frauen. Nun war ich nicht gerade ein Stammleser von »Kvinner og Klær«, aber ich blätterte sie schon einmal durch, wenn sie zufällig vor mir lag und ich absolut nichts anderes zu tun hatte und auch nichts hatte, worüber ich hätte nachdenken müssen. Da gab es ein paar schreckliche Gedichte, die mich in gute Laune versetzten. Mein Gedicht war dagegen bisher noch nicht abgedruckt worden, und es war bereits sieben Dienstage her, dass ich es eingeschickt hatte. Aber ich hegte keinerlei Zweifel, dass Zwischenzeit , wie mein Gedicht hieß, im Vergleich mit den possierlichen Versen, die reihenweise dort standen und sich nur mit Müh und Not reimten, absolut nobelpreiswürdig war. Ich mag nichts aus diesen Machwerken wiederholen, aber sie klangen ungefähr so: Freue dich über jeden Tag, der dir beschert/ denn jeder Tag ist deine Freude wert. Ich würde den Frauen und ihren Kleidern zeigen, was ein wirkliches Gedicht war. Ich hätte außerdem sagen können, dass ich von Trolleybussen geträumt hatte und dass ich am Tag zuvor ein Mädchen gesehen hatte, das bei mir einen gewissen Eindruck hinterlassen hatte.
Mutter schmunzelte.
»Na, du wirst ja wohl von anderen Dingen träumen als vom Rhododendron?«
»Ja. Von den Tanten. Aber das würde ich eher als Albtraum bezeichnen.«
»Rede nicht so hässlich von den Tanten, Chris. Sie können einem leid tun.«
Warum behauptete sie die ganze Zeit, dass gewisse Leute einem leid tun könnten? Iver Malt konnte einem leid tun. Jetzt waren es also die Tanten, die einem leid tun konnten. Konnte ich auch jemandem leid tun? Konnten alle Menschen einem leid tun? Ich wollte nicht, dass sie der Meinung war, dass ich ihr leid tun konnte.
Ich setzte mich auf.
»Warum können sie einem leid tun?«
»Weil sie nie geheiratet haben und allein leben.«
»Aber deshalb müssen sie einem doch nicht leid tun?«
Mutter antwortete nicht, schloss nur die Augen. Vielleicht wollte sie, dass ich ihr die gleiche Frage stellte, wovon sie geträumt hatte? Doch das schaffte ich nicht. Es war mir einfach unmöglich. Ich hatte natürlich Angst vor der Antwort, wodurch ich noch ängstlicher wurde. So viel verstand ich damals schon. Es hatte etwas mit dem zu tun, was ich ihre Unfreiwilligkeit nenne. Weil das Leben, das sie lebte,
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