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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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berührt und aufgeregt zugleich. Jedes Mal, wenn ich meinen höllischen Fuß vergessen hatte, gab es jemanden, der mich unbedingt wieder an ihn erinnern musste. Konnten sie nicht meine Füße in Ruhe lassen, zumindest den einen? Mussten sie unbedingt immer von ihm reden? Meine Schuhe spazierten von allein, einer geradeaus und der andere gerade zur Seite. Bald stand ich im Spagat. Ich freute mich darauf, alt zu werden und einen Stock benutzen zu dürfen. War es die Freundin, dieses neue Mädchen, die also Heidi hieß, die wollte, dass ich mit nach Sandvika kam? War es vielleicht Heidi, die Lisbeth gefragt hatte, ob sie mich fragen könnte? War das möglich? So etwas war ich nicht gewohnt. Ich kam nicht gut zurecht unter Menschen. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Ich wusste nur, dass ich Iver Malt mit Dreck beworfen hatte, über ihn geschludert, ihn verleugnet hatte, und warum? Weil ich gefallen wollte. Ich wollte allen gefallen. Deshalb blieb ich schließlich dazwischen stehen, im Spagat. Verflucht, ich war im Spagat geboren. Ich gehörte nirgends hin. Übrigens stimmt es nicht, dass Worte zurückgenommen werden können.
    Meine Schuhe und ich gingen weiter zu Signalen. Ich ging dort üblicherweise nicht hin, ganz im Gegenteil, ich ging nie dorthin. Signalen selbst hieß eigentlich der alte Leuchtturm, der auf der Spitze zwischen dem Oslofjord und dem Bunnefjord stand. Später bekam die ganze verkommene Landspitze dort den gleichen Namen, Signalen, obwohl der Leuchtturm gar nicht mehr benutzt wurde und nur wie eine erloschene Weihnachtsbaumkerze aufrecht im Wasser stand. Vor dem Krieg stand hier übrigens ein großes Hotel, mit Orchester, Suiten und Smoking. Die Tanten konnten viel davon erzählen, von den roten Laternen zwischen dem Sternenhimmel und den blauen Wellen, vom Jazz und Tanzschritten und fröhlichem Gelächter die ganze Nacht hindurch. Aber selbst waren sie nie dort gewesen, möge Gott sie bewahren! Dann brannte das Hotel, der Krieg kam, und die Deutschen errichteten dort stattdessen eine Reihe Baracken, die später stehen blieben, obwohl der Frieden kam und die Deutschen kapitulieren mussten, ich weiß nicht warum, sollten nicht alle Spuren von »Donner und Blitz« entfernt werden? Es hatte etwas mit der Wohnungsnot zu tun. Wir mussten in den sauren Apfel beißen. Es gelang uns nicht, schnell genug Wohnungen für alle zu bauen. Deshalb kam ja auch mein Vater ganz aus Dänemark hierher, nicht nur, um meine Mutter zu heiraten, sondern auch, um dem norwegischen Volk zu helfen, indem er möglichst viele Häuser zeichnete. Alle Segel mussten gesetzt werden. War es da ein Wunder, dass er noch keinen Urlaub hatte? Und in einer dieser Baracken, der einzigen, die immer noch dort stand, wohnten also Iver Malt und seine Eltern.
    Ich trottete einen schmalen Pfad entlang, der mit Glasscherben und Korken übersät war. Auf beiden Seiten wuchsen Brennnesseln dicht an dicht, und die Bäume beugten sich aus allen Richtungen über mich, als wäre ich mitten in einem Dschungel. Es roch auch anders hier, eine Mischung aus Seetang und Benzin. Mit anderen Worten: Ich befand mich auf fremdem Terrain. Ich war ein Entdeckungsreisender im dunklen Herzen von Nesodden. Als ich die letzten Zweige, die wie zottelige Taue von den Bäumen hingen, beiseiteschob, entdeckte ich Iver Malt. Er saß auf einem zusammenklappbaren Campingstuhl vor dem, was sein Zuhause war, der Baracke, der Deutschenbaracke, ein Schutthaufen von einem Haus, aber in den beiden Fenstern hingen saubere, ordentliche Gardinen. Iver Malt las in einem Buch und hatte die Beine auf einen leeren Bierkasten gelegt. Ich konnte nicht sehen, um welches Buch es sich handelte. Jedenfalls war es ziemlich dick. Das Grundstück um ihn herum war der reinste Schrottplatz, übersät mit Radkappen, Motorhauben, Ersatzteilen, Kupferrohren, Herden, Wellblech, Batterien und Fahrradlenkern. Irgendwo in der Nähe hörte ich jemanden auf Metall hämmern, Eisen, Stahl, was immer das auch sein mochte, sicher war es sein Vater, der besoffen war und nicht zur Arbeit gehen konnte. Iver hatte mich offenbar noch nicht gesehen. Seine Fußsohlen waren ganz schwarz, was höchstwahrscheinlich daran lag, dass er barfuß über Glasscherben, Nägel und Kronkorken lief. Er wirkte vollkommen versunken in das Buch, oder eher darin verloren. Die Hammerschläge gingen durch Mark und Bein. Ich konnte keinen Hund sehen, der nicht bellte, nur ein paar ungepflegte, braune Hühner, die zwischen dem Müll

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