Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
eine Pflicht war. Weil es daraus kein Entkommen gab. Vielleicht beneidete sie im Grunde genommen diese fordernden, alleinstehenden Tanten mit ihren krummen Rücken, die keine Pflichten zu erfüllen hatten, die Essig fürs Gesicht benutzten und mit einem Sonnenschirm herumliefen, wenn sie nicht auf allen vieren die Kieswege entlangkrochen und Unkraut zupften, das niemand außer ihnen und den Ameisen sehen konnte. Und wenn du sie danach fragtest, warum um alles in der Welt sie etwas zupften, das niemand sehen konnte, wie gesagt, bis auf die Tanten und die Ameisen, dann waren sie tödlich beleidigt, verließen die Gartengeräte, ließen sich im Hause nieder und rieben sich noch mehr Essig über die grauen harten Wangen. Sie meinten, Essig sei gut für die Haut. Sonne war ein ungesunder Fluch, den Lohnempfänger und Laufburschen gern für sich behalten konnten. Und niemand sollte es wagen zu behaupten, dass das, was sie taten, ganz gleich wie wenig es war, ganz gleich, wie pingelig es erschien, unnütz und sinnlos war. Das wollten sie sich doch verbeten haben. War das auch der Grund, warum Mutter so mürrisch wurde, wenn Vater fragte, ob es denn eigentlich nötig sei, jeden Tag Staub zu saugen? Wir sehen doch gar keinen Unterschied, behauptete er. Es war das Schlimmste, was er hätte sagen können. Dass wir keinen Unterschied sehen konnten. Ihr Leben, ihr Streben, ihr Stolz, alles verschwand in diesen gut gemeinten Worten, und zurück blieb nur die Pflicht, jeder Pracht beraubt, hässlich und störrisch. Es wäre besser gewesen, Vater hätte gesagt, dass die Fenster wirklich langsam schmutzig wurden. Dann hätte sie loslegen können, mit Trittleiter, Lappen und Seifenwasser. Einen Fehler kann man korrigieren, mit Lob muss man einfach nur leben.
Mir kam ein Gedanke, der mich erschütterte, nämlich der, dass es Mutter war, die meine Scharten geerbt hatte.
»Ist Iver mit der Zeitung hier gewesen?«, fragte ich.
Mutter schüttelte den Kopf.
»Kannst du sie nicht holen? Und gib ihm bei dieser Gelegenheit gleich diese eklige Fischdose zurück. Ich musste sie auf die Terrasse stellen. Sie stinkt.«
»Wie kommst du darauf, dass sie Iver gehört?«
»Na, das werde ich dir sagen, Herr Professor. Iver Malts Name steht drauf.«
Mutter zog die Gardinen mit einem Schwung zur Seite, und ein Rahmen mit noch goldnerem Licht, vermischt mit grünen, unruhigen Schatten, legte sich über Schreibmaschine, Papierbogen und Tisch. Es schien, als wollte sie dieses Licht anfassen, das kurz zuvor durch sie hindurchgeschienen hatte und jetzt wieder dalag, außerhalb von uns. Sie beugte sich über den Tisch und war kurz davor, die Hand auf die Tasten fallen zu lassen.
»Nicht anfassen!«
Sie versteckte die Hand hinter dem Rücken und sah mich mit einem sonderbaren Blick an, als versteckte sie etwas in der Hand, die sie gerade hinter den Rücken geschoben hatte. Dann lachte sie.
»Aber mein Lieber. Ich wollte doch nichts kaputt machen.«
»Wenn ein Blatt Papier drin steckt, dann ist sie besetzt.«
Mutter blieb weiter so stehen, mit einer Hand auf dem Rücken, mit der anderen wischte sie sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Es sah aus, als hätte sie geweint, und jetzt liefen ihr die Tränen übers Gesicht.
»Warum hört mir niemand zu«, sagte sie leise.
Es war keine Frage, sie sagte das zu sich selbst, ein Seufzer, in Worte gefasst. Ihre Stimme war weiter entfernt als die heimlichen Gespräche im Trolleybus, die nachts zu mir drangen. Ich wurde immer unruhig, wenn sie anfing, so zu reden, unruhig und fast wütend, denn plötzlich war ich es, dem sie für einen Moment lang leid tat, und das war das Letzte, was ich wollte.
Konnte nicht einfach alles in allerschönster Ordnung sein?
»Tut das keiner? Ist da keiner, der dir zuhört?«
»Tust du es?«
»Tue ich es etwa nicht? Ich höre dir zu. Hörst du das nicht?«
»Vielleicht hörst du mich. Aber du hörst nicht auf mich.«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe gesagt, du sollst dich von dem Jungen fernhalten.«
»Ich habe ihn doch nur am Anleger getroffen. Wir haben geangelt. Na und?«
»Na und? Ganz gleich, was ich sage, es ist alles na und. So sollte ich heißen: Frau Na und.«
»Soll ich also die Dose doch nicht zurückbringen? Wenn ich mich von ihm fernhalten soll?«
»Doch, das sollst du. Sonst kommt er noch her. Und das möchte ich möglichst vermeiden.«
»In Ordnung.«
»Weich oder hart?«
»Hart.«
»Sechseinhalb Minuten. Du hast also genug Zeit.«
In
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