Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
Moment die Geduld und unterbrach mich.
»Man stirbt nicht an einem gebrochenen Bein, Chris! Nimm dich jetzt zusammen.«
»Scheiße.«
»Was hast du gesagt?«
»Nichts. Kann ich nicht fahren, und du bleibst hier?«
»Jetzt geht es um Vater, nicht um dich. Ausnahmsweise einmal!«
Und ich konnte ja wohl bitte schön ein einziges Mal ein Wochenende mit vier empörten Tanten aushalten, die der Meinung waren, dass Vater sich nur das Bein gebrochen hatte, um sich zu drücken. Jetzt hatten sie es endlich schwarz auf weiß, dass er sie nicht mochte. Dieses simple Manöver würden sie aber eine ganze Weile lang nicht vergessen. Und war er wirklich auf dem Gerüst verunglückt? War es denn ganz sicher nicht draußen auf Skansen passiert, dass er nach einem sogenannten halben Liter gestolpert war? Die Gerüchte verbreiteten sich bereits, denn wenn man von Frau Radiosender Gulliksens Telefon aus anrief, kam das eigentlich aufs Gleiche raus, als hätte man die Nachricht in roter Schönschrift auf die Spitze des Kolsås geschrieben. Ich ertappte mich dabei, dass mir diese unglaubliche Lauscherei gefiel. Es war genau das Gleiche wie mit Iver Malt und allem, was geredet wurde, oder besser gesagt, nicht geredet wurde, über ihn und seine Familie, kranke Hunde, deutsche Soldaten und uneheliche Brüder. Die Wahrheit nahm Formen an und brachte Bastarde zur Welt. All das lockte mich in einer Weise, die ich nicht erklären konnte, und ich versuchte es auch gar nicht erst. Und früher oder später fallen die Gerüchte immer auf ihren Urheber zurück und stecken ihn mit ihren Schmeicheleien an. So begann meine lange lügnerische Laufbahn.
Ich konnte kaum das Tor öffnen, brach nahezu unter dem Gepäck der Tanten und meinem eigenen rabenschwarzen Gemüt zusammen. Was hatte Mutter gesagt? Es ginge hier ausnahmsweise einmal nicht um mich. Ging es denn sonst immer um mich? Stimmte es also, dass ich so viel Platz einnahm, dass Mutter sich selbst verleugnen musste? Es bestand kein Zweifel mehr: Ich war ein schlechter Mensch. Aber ein ganzes Wochenende allein mit den Tanten! Das hatte ich nicht verdient. Sie blieben alle gleichzeitig stehen und zeigten mit zitternden, vertrockneten Fingern in die gleiche Richtung.
»Und wer soll jetzt den Fahnenmast streichen?«
9
M an kann ja viel über die Tanten sagen. Aber mehr als das Folgende soll nicht gesagt werden: Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte geschworen, dass es mindestens zwanzig von ihnen gab. Nachdem sie erst einmal hier waren, waren sie überall. Wollte Tante Soffen den Abtritt aufsuchen, wie sie alle es so vornehm benannten, stand stets Tante Emilie davor und passte auf, dass niemand kam und sie störte. Wer um Himmels willen wollte denn Tante Soffen auf dem Abtritt stören? Übrigens benutzte sie ein Hörrohr, einen schwarzen Trichter, den sie zur doppelten Länge ausziehen oder wieder zusammenklappen konnte, je nachdem, wie viel sie hören wollte. Und wenn Tante Massa die Flagge hisste, war Tante Carlik nie weit. Dann befanden sich alle vier plötzlich im Obstgarten, wo sie Rhabarber und Stachelbeeren inspizierten, und das taten sie, während zwei von ihnen weiterhin auf dem Kies hockten und mit Lupe und Pinzette Unkraut zupften. Und bevor ich mich recht versah, standen die aus dem Obstgarten bereits mitten im leeren Karpfenteich und scheuerten die Ränder mit grüner Seife, während Tante Carlik und Tante Massa, beide mit einem Teppichklopfer bewaffnet, am Rhododendron Wache hielten, damit die Hummeln nicht freie Bahn hatten. Die Hummeln hatten Hausarrest! Nicht eine Ecke, nicht einen Winkel ließen sie in Frieden. Sie öffneten Schubladen und Schränke. Sie hoben fast alles an, was etwas hätte verbergen können. Wonach suchten sie? Staub? Tote Insekten? Alte Nachrichten? Vergessene Postkarten? Geheime Grüße? Ich glaube, sie suchten nach ihrer Jugend, nach einem Schatten, nur einem Hinweis aus der Zeit, bevor sie alte Jungfern und Tanten wurden, wenn es jemals so eine Zeit gegeben hatte. Während dieser Vorgänge versteckte ich mich im Keller, im kühlsten Raum des Sommers. Hier stand nämlich der alte Kühlschrank, der nicht elektrisch und eigentlich überhaupt kein Schrank war, nur eine längliche Kiste, gefüllt mit Eisblöcken, die im vorigen Winter aus dem Oslofjord gesägt worden waren, und jetzt konnte man frische Lebensmittel und Milchflaschen dort hineinlegen, solange die Kälte anhielt. Aber die Tanten fanden mich natürlich auch dort. Selbst wenn ich mich
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