Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
stand er doch immer an Deck und winkte. Die Tanten waren dagegen nicht schwer zu entdecken. Sie drängelten zur Gangway, was das Zeug hielt, es hätte lebensgefährlich werden können, wenn man das Alter der Tanten und die Promille der Pinguine in Betracht zog, wenn nicht der Kapitän mit seinen souveränen Händen eingegriffen hätte und die Passagiere in Reih und Glied gestellt hätte, wie er es verlangte.
»Ist dein Vater sauer auf mich?«, fragte ich.
Iver zuckte nur mit den Schultern.
»Mein Vater ist nicht nachtragend, wenn er trinkt.«
Iver Malt hatte das Buch dabei, das er auf dem Campingstuhl sitzend gelesen hatte, Herman Melvilles Roman Moby Dick. Er überreichte ihn mir. Das Buch wog acht Kilo. Mir wurde noch schlechter zumute, denn ich hatte so ein Gefühl, als würde ich ihm mit jedem Mal, dass er mir etwas gab, mehr schulden.
»Was soll ich damit?«
»Lesen, du Dummkopf. Was sonst?«
»Ich habe genug zu lesen«, sagte ich.
Iver Malt grinste.
»Was heißt das, wann hast du denn genug zu lesen?«
»Wenn ich keine Zeit für mehr habe.«
»Du kannst es jemand anderem geben.«
»Kannst du es nicht lieber jemand anderem geben?«
»Na klar. Aber jetzt habe ich es dir ja schon gegeben.«
»Und was ist, wenn ich es gar nicht haben will?«
»Das ist dein Problem.«
»Mein Problem?«
»Du musst mir nur erzählen, wie es aufhört. Wer gewinnt.«
»Gewinnt?«
»Ja. Wer gewinnt. In Ordnung?«
»Warum liest du es dann nicht einfach selbst?«
Ivers Augenhöhlen wurden ganz dunkel.
»Pack ich nicht.«
Dann drehte er sich abrupt um und verschwand wieder nach Signalen hinauf. Ich fühlte mich ziemlich erbärmlich und undankbar. Doch bald hatte ich anderes zu bedenken, was leider auch kein Trost war. Die Tanten mit dem großen T kamen endlich mit heiler Haut an Land mit all ihrer unnützen Bagage, umringten mich sogleich und redeten alle zugleich auf mich ein. Sie hatten schlechte Neuigkeiten. Soviel verstand ich zumindest. Und die Tanten waren wie die Hunde hinter schlechten Nachrichten her. Besonders wenn sie diejenigen waren, die sie verkünden konnten. Es schien, als gäben die schlechten Nachrichten ihrem Leben einen Sinn. Denn letztendlich waren sie diejenigen, die einem am meisten leid tun konnten. Schlechte Nachrichten waren wie ein frischer Wind für sie.
»Dein Vater hat sich das Bein gebrochen!«
Und ich lief so schnell ich konnte hinauf zu Mutter, während die Tanten am Anleger warteten. Ich lief so schnell, dass ich fast meinen verqueren Fuß vergaß. Jetzt war ich derjenige, der die schlechten Nachrichten weiterleitete. Vater hatte sich das Bein gebrochen! Und war ich etwa nicht genauso eifrig wie die Tanten, als hätte ich Angst, jemand könnte mir zuvorkommen? Ich rief bereits, bevor ich die Tür geöffnet hatte. Vater hat sich das Bein gebrochen! Vater hat sich das Bein gebrochen! Mutter hatte es schon lange gehört und kam mir entgegen; wahrscheinlich hatte die Witwe Neugier Gulliksen die schlechte Nachricht aufgeschnappt und Rauchsignale aufsteigen lassen. Aber mein Gott! Wie ist das passiert! Es ist folgendermaßen passiert, das erfuhr ich später, soweit ich in diesem Sommer überhaupt etwas erfuhr, das ich glauben konnte. Vater war zur Inspektion auf einer Baustelle auf Økern gewesen, als das Gerüst nachgab. So etwas darf nicht passieren, und dem Polier wurde der Rausschmiss angedroht. Mein Vater dagegen nahm es gelassen hin. Es ist ein Menschenrecht, Fehler zu machen, sagte er und fügte hinzu: Selbst Architekten können Fehler machen. Und man kann kein Haus zeichnen, bevor man nicht weiß, wie es gebaut wird. Das wiederholte er viele Jahre später, als er starb, und viele Jahre später ist noch nicht so lange her. Man muss wissen, wie man ein Haus baut, bevor man es zeichnen kann. Was mich betrifft, so kann ich hinzufügen: Man muss auch wissen, wie es abgerissen wird. Mutter lief jedenfalls zu Frau Klatschbase Gulliksen hoch, die ein Telefon hatte, und rief im Krankenhaus an oder wo auch immer. Anschließend ging es wieder hinunter zum Anleger, wo die Tanten mit all ihrer Macht die Prinsen am Ablegen gehindert hatten.
»Ich komme auch mit«, sagte ich.
»Das tust du nicht. Du musst hierbleiben.«
»Zusammen mit den Tanten? Ich? Allein? Zusammen mit den Tanten? Allein?«
»Das schaffst du schon.«
»Ich will mitkommen.«
»Nun nimm dich zusammen! Du kannst Vater ein andermal besuchen.«
»Es ist nicht sicher, dass es ein andermal gibt.«
Mutter verlor für einen
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