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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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und erregt. Sie riefen alle durcheinander. Lisbeth schleppte sich heulend zu Heidi, die sich den Pullover auszog und ihn Lisbeth umlegte, statt in Deckung zu gehen. Dann hörte ich jemanden Henrys Namen sagen, Henry, Henry, aber es war nicht Iver Malt. Es war der Vater. Er stand ein Stück den Weg hinunter, ganz ruhig, in Anzug und weißem Hemd, auch er. Sie hatten sich fein gemacht, meinetwegen hatten sie sich fein gemacht. Wir sollten ja die Mondlandung zusammen hören. So lautete die Abmachung. Er wirkte so fehl am Platze. Wir alle waren an diesem Abend fehl am Platze. Wir hätten überall sonst sein sollen, nur nicht hier.
    »Henry«, wiederholte er, »leg das Gewehr hin.«
    Henry rührte sich nicht. Man konnte meinen, er schliefe. Er schlief im Stehen und zielte. Der Vater kam ein paar Schritte näher, wandte seinen Blick nicht von ihm ab.
    »Gib mir das Gewehr, Henry.«
    Der Vater streckte die Hand aus.
    »Gib mir nur das Gewehr, Henry. Dann ist alles in Ordnung. Gib es mir.«
    Henry öffnete die Augen, drehte sich langsam um und zielte auf den Vater, den Stiefvater, der vorsichtig den Lauf umfasste und versuchte, das Gewehr aus den riesigen Fäusten herauszuziehen. Endlich ließ Henry los, sank auf die Knie und fing an zu heulen, während er sich vor und zurück wiegte. Der Vater legte ihm die freie Hand auf den Kopf, und Henry wurde ruhiger. Es sah aus wie eine Liebkosung, eine Segnung. Dann drehte der Vater sich zu mir um.
    »Ist jemand verletzt?«
    »Er hat nur die Laterne getroffen.«
    »Sag ihnen, dass ich sie ersetzen werde. Du blutest.«
    »Das war die Katze. Sie hat mich gekratzt.«
    Der Vater ging zu Iver, der sich immer noch nicht gerührt und auch nichts gesagt hatte, schlug ihm mit der geballten Faust ins Gesicht. Iver schaffte es nicht einmal, die Hände zu heben. Die Beine knackten einfach wie Strohhalme unter ihm weg, und er blieb auf dem Bauch am Wegrand liegen. War der Schlag auch eine Liebkosung, eine Liebkosung, die sich verirrt hatte? Der Vater brach das Gewehr auf, holte eine Patrone heraus und steckte sie schnell in die Jackentasche. Dann zog er Iver auf die Beine und die beiden gingen mit Henry zwischen sich hinunter nach Signalen, als wenn nichts passiert wäre, dachte ich, als wenn nichts passiert wäre.

18
    I ch versuche es so nüchtern wie möglich zu erzählen, was ich natürlich nicht war, also nüchtern, als diese Ereignisse stattfanden. Ich hatte damit gerechnet, dass die Leute herbeiströmten, als sie den Schuss hörten, doch dem war nicht so. Vielleicht hörten sie es nicht, oder sie wollten nicht die Übertragung verpassen, ob sie nun dem Radio zuhörten oder dem Fernsehen zuschauten. Was übrigens keine Rolle spielt. Es kam, wie es kommen musste. Alles hätte anders laufen können, wie das meiste, das wir uns vornehmen. Denn das, was tatsächlich geschieht, ist ja nur eine aus einer langen Reihe verschiedener Möglichkeiten. Aber es kam, wie es kommen musste, und ich konnte nichts dafür oder dagegen tun. Die Familie Malt wurde in alle Winde zerstreut, wie es heißt. Ich weiß nicht, wie viele Winde es gibt. Ich stand nur in meinen eigenen. Iver sagte kein Wort zu dem, was passiert war, und er verbrachte drei Jahre auf Bastøy, bevor er auf einem von Wilhelmsens Schiffen zur See fuhr, auf einem Frachter über den Indischen Ozean oder irgendwo dort, und seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Henry war strafrechtlich nicht zurechnungsfähig und landete in einer geschlossenen Anstalt vor den Toren der Stadt. In den Zeitungen wurde viel über ihn geschrieben, über den armen Jungen, der jahrelang in einem Erdkeller gefangen gehalten worden war. Wie konnte das nur geschehen? Was waren diese Menschen doch für Untiere, diese Eltern? Besonders die Mutter knöpften sie sich vor. Noch einmal fiel die Schande auf sie, härter als je zuvor. Sie war nicht nur eine Dirne, sie war außerdem noch böse. Aber war nicht auch eine Art Fürsorge in ihrer Entscheidung zu sehen, eine verdrehte Fürsorge, die eigentlich das Gegenteil von Bosheit war? Wollte sie nicht auch auf ihre hilflose und gleichzeitig entschlossene Art und Weise den Sohn beschützen, den behäbigen Henry, den unehelichen Henry, ihn schützen, ihn, der am meisten Schutz von allen brauchte? Keine mildernden Umstände, sagte das Gericht. Nicht einmal das selbst gebackene Brot konnte zu ihrem Vorteil sprechen. Eher im Gegenteil. Das selbst gebackene Brot zeigte eher, wie gerissen sie war. Alles an ihr war erschwerend.

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