Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
glaube, ich gehe lieber rein und guck mir die Mondlandung an«, sagte ich.
Plötzlich war Heidi wie verwandelt.
»Tu das nicht, Chris.«
»Warum nicht?«
»Ich habe versucht, auf sie aufzupassen.«
»Was meinst du?«
Sie schüttelte den Kopf und wiederholte das, was sie bereits gesagt hatte.
»Ihr seid alle Schweinehunde.«
Ich ging zur Tür und schaute durch die gewölbten Glasscheiben hinein. Der Fernseher leuchtete, aber niemand sah zu. Dann entdeckte ich Lisbeth. Sie lag auf dem Sofa. Ein Arm hing auf den Boden. Ich sah es nur undeutlich. Sie waren mit ihr zugange. Sie nahmen sie einer nach dem anderen. Ich weiß nicht, wie lange ich so stand und die Augen schloss. Dann wurde all meine Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt gerichtet. Heidi flüsterte meinen Namen. Ich öffnete die Augen in der Hoffnung, dass dieser Abend doch noch ins richtige Fahrwasser kommen würde. Aber nein, Iver Malt war zurückgekommen. Er kam immer zurück. Er war nicht allein. Bei sich hatte er einen riesigen Kerl in einem Overall. Sein Kopf war so schwer, dass er nach vorn überkippte. Er hatte ganz kurze Haare und war aufgedunsen. Er ging mit schweren, langsamen Schritten, aber jeder Schritt war so lang, dass Iver Malt trotzdem laufen musste, um Schritt zu halten. Der Hüne trug ein Gewehr über der Schulter. Ich erkannte das Gewehr wieder. Sie blieben vor der Pforte stehen, und Iver Malt schob den Koloss vor sich her, er schien total verrückt zu sein.
»Begrüße Henry! Komm her und begrüße Henry, Chris! Du Wittling!«
Das war also Henry, der Deutschenbalg, der Halbbruder. Er schien auch verrückt zu sein, aber auf eine andere, verwirrte Art und Weise. Er strich sich mit dem blauen Ärmel über die Augen, immer und immer wieder, als blendete ihn das bereits abnehmende Abendlicht. Dann fing er an, mit dem Gewehr herumzufuchteln, und gab die gleichen unmenschlichen Geräusche von sich, die ich aus dem Erdkeller gehört hatte. Das Ganze ähnelte einem makabren Tanz. Heidi verbarg ihr Gesicht in den Händen. Plötzlich verstummte Henry, legte an und zielte. Iver Malt lachte und hüpfte von einer Seite zur anderen und auf und ab, wie ein krankes Kind. Erst da bekam ich Angst. Erst da glaubte ich an das, was ich sah. Es stimmte also. Henry gab es. Mit Iver Malts Hilfe war er aus dem Erdbunker gestiegen. Nein, nicht nur das, auch mit meiner Hilfe war er sichtbar geworden, und hätte ich bestimmen können, ich hätte ihn wieder zurück in die Dunkelheit geschoben, wie es für die meisten am besten war. Ich wusste nicht, worauf er zielte. Es konnte die Katze sein, die flach und schwarz unter dem Farn lag. Es konnte Heidi sein. Ich konnte es sein. Henry zielte auf die Welt. Ich dachte an das, was sein Vater gesagt hatte, dass ein Gewehr immer geladen ist. Weiter kam ich nicht mit meinen Gedanken.
»Darf ich jetzt reinkommen?«, rief Iver Malt. »Nun?«
Der Schuss leerte den Sommer von allen anderen Geräuschen. Dann hörte ich die verspätete Explosion, die sich in einer Lawine aus Glas direkt hinter mir fortsetzte, und dieser Erdrutsch hinterließ eine neue Stille, tiefer und durchdringlicher als je zuvor. Iver fiel nach hinten und blieb mitten auf dem Weg liegen. Die Schatten wechselten ihren Platz. Henry heulte noch lauter, schlug mit der Stirn gegen den Kolben und legte erneut an. Ich stand immer noch auf der gleichen Stelle und kam nicht vom Fleck. Auch Heidi hatte sich nicht gerührt. Einen Moment lang glaubte ich, Iver Malt sei getroffen. Wie viele Schuss waren in so einem Gewehr? Ich hatte keine Ahnung. Ich starrte direkt in den Lauf. Henry stand zehn Meter vor uns, vor mir, vielleicht noch weniger. Sein breites, blasses Gesicht war kindlich und nichtsahnend, der Blick von einer furchteinflößenden und gleichzeitig erschrockenen Leere. Er konnte sich nicht entscheiden, welches Auge er zukneifen sollte, um besser zielen zu können. Er schloss beide. Blind zu schießen, wäre am gefährlichsten. Dann könnte er treffen. Iver Malt stand schließlich auf und raste herum. Er war äußerlich unbeschadet und innerlich zerschmettert. Genau so sah er aus. Wie lange es dauerte? Ich hatte die Zeit nicht mehr im Griff. Alles geschah ruckartig, und die Reihenfolge war ausgetauscht worden. Es schien, als wäre die Zeit in verschiedene Zonen eingeteilt, die nichts miteinander zu tun hatten. Einer von uns würde den Verstand verlieren. Außerdem war ich auf dem linken Ohr fast taub. Die anderen kamen aus dem Haus gestürmt, halb nackt
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