Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
ihren schwersten Momenten. Sie sollen einer Mutter mitteilen, dass ihre Tochter bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Sie sollen einem Vater sagen, dass sein Sohn im Fluss ertrunken ist. Sie sollen den Angehörigen in die Augen schauen und …«
Der Sheriff legte dem Pfarrer eine Hand auf die Schulter.
»Schon gut. Wonach wir fragen, Farrelli, ist einfach nur, ob Sie bereits Erfahrung darin haben, schlechte Nachrichten zu überbringen.«
»Ich musste meiner Mutter sagen, dass mein Vater tot war.«
»Wie ist Ihr Vater gestorben?«
»Er ist die Leiter heruntergefallen, als er die Dachrinne reparieren wollte. Das Dach war nicht besonders hoch, aber er traf auf eine Sense auf, die im Gras lag. Mit der Stirn zuerst. Sein Schädel öffnete sich wie ein Ei. Tut mir leid. Ich sollte das nicht so sagen. Aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es war schrecklich.«
Frank Farrelli schaute zu Boden, fuhr sich mit dem Handrücken über die glatte Stirn und musste das Taschentuch des Pfarrers benutzen. Dieses Mal waren es keine Regentropfen, die er wegwischte, sondern Tränen. Der Sheriff schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr.
»Ich erinnere mich daran. Furchtbar. Wie alt waren Sie da?«
»Dreizehn.«
»Ich kann mich auch noch erinnern«, sagte der Pfarrer. »Sie sind in der Kirche aufgestanden und haben sich an den Sarg Ihres Vaters gestellt. Das war für einen Dreizehnjährigen eine beachtliche Leistung.«
»Danke. Es war nur meine Pflicht.«
Frank wischte sich noch einmal über die Augen und war zufrieden. Sein Verhalten sollte ja wohl zweifellos von Vorteil sein. Er war ein Gefühlsmensch. Er konnte sich in den Schmerz und die Trauer anderer hineinversetzen. Dann dachte er das blanke Gegenteil, so ging es ihm immer, nämlich dass die Kommission keinen Jammerlappen suchte, sondern eher einen harten Knochen, der die finstersten Nachrichten überbringen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Und ganz richtig, der Sheriff ließ nicht locker.
»Weinen Sie, Farrelli?«
»Nein, nein. Es ist nur der Regen.«
»Wir können keinen Übermittler gebrauchen, der weint. Es ist das Privileg der Angehörigen zu weinen. Nicht des Übermittlers.«
Die Kommission erhob sich. Frank auch. Das Gespräch war beendet. Sie schienen nicht direkt unzufrieden mit ihm zu sein, machten ihm aber auch keine Versprechungen. Er würde binnen kurzer Zeit Bescheid bekommen, in nur wenigen Tagen, vielleicht schon morgen. Die gleiche Sekretärin brachte ihn wieder zum Ausgang. Frank sagte, er habe den Eindruck, es sei gut gelaufen. Er schaute zu Boden, während er sprach, auch das war eine Angewohnheit von ihm. Auf einem kleinen Schild, das an der Brust der Sekretärin befestigt war, stand Blenda Johnson. Sie war niedlich und vierschrötig, trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock, was ihr einen altertümlichen, altmodischen Anstrich gab. Wogegen Frank nichts einzuwenden hatte. Er meinte sich an sie aus seiner Schulzeit zu erinnern, sie war einige Klassen unter ihm gewesen. Blenda Johnson konnte ihm außerdem verraten, dass es mit den beiden anderen Bewerbern wohl nicht so gut gelaufen war, er sollte das bloß nicht glauben, sie hatte da so ein Gefühl. Deshalb hätte Frank sicher gute Chancen.
Er entspannte sich und ging Richtung Westen, vorbei an den alten Bars, Smith’s Corner, Willy’s Saloon, Magic Pub, voll mit Schatten, die es sich nicht mehr leisten konnten, sich froh zu trinken, sondern sich mit trübem Schnaps nur noch betranken, bis sie einschliefen. Es regnete nicht mehr. Er schaute bei Bill McQuire vorbei, dem Schlachter, einer der wenigen, der immer noch geöffnet hatte, und wollte sich zwei T-Bone-Steaks leisten. Bill fragte, ob Frank etwas zu feiern habe, da er so spendabel sei. Vielleicht, vielleicht auch nicht, antwortete Frank. Glück für dich, erwiderte Bill. Doch als er das letzte Stück Knochen durchhacken wollte, rutschte die Fleischaxt auf seine Hand und nahm den halben kleinen Finger mit. Bill schrie auf und kroch auf dem Fußboden herum, um die Fingerspitze zu finden, während das Blut aus dem verletzten Finger schoss.
»Hol dich der Teufel, Farrelli! Hol dich der Teufel!«
»Das war ja wohl nicht meine Schuld!«
»Der Teufel soll dich dennoch holen! Ich finde sie nicht!«
»Du musst ins Krankenhaus, Bill.«
»Scheiße, ich will nicht ins Krankenhaus! Nimm dein bescheuertes Fleisch und verschwinde.«
»Vielleicht liegt sie im Einwickelpapier? Dann will ich es nicht haben.«
Bill McQuire
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