Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
gab ein entgeistertes Ächzen von sich. Gemeinsam stürzten sie zu Lina, ließen Nick allein zurück.
Er bemerkt es nur am Rande, erfasste kaum ihre Bemühungen, Lina zu beruhigen und das plötzlich apathische Mädchen ins Sonnenzimmer zu führen. Das Entsetzen über das eben Erlebte saß tief.
Marion rief nach ihm. Sie gellte Anweisungen, die Nick in einer Art Trancezustand ausführte. Er goss Wasser in ein Glas, nahm die Tablettenschachtel, auf der Linas Name geschrieben stand, aus der Schublade, setzte einen Fuß vor den anderen, brachte das Gewünschte nach oben.
Marion nahm ihm beides ab.
Lina hockte im Bettkasten. Das wirre Haar wucherte verschwitzt in alle Richtungen. Es erinnerte Nick an das unfertige Nest eines kleinen Vogels. Eines Zebrafinken vielleicht oder einer Chinanachtigall. Lina war mit Erde, rötlichem Saft und Schweiß überzogen. Die schmutzigen Fäuste presste sie vor die Filmleichenaugen.
Sie roch eigenartig.
Süßlich und erdig.
Beinahe, als hätte man ihren Körper ausgegraben.
Nick wurde speiübel.
Wir müssen einen Arzt holen, dachte er. Einen Psychologen, oder so. Jemand soll kommen und uns helfen. Das hier, das schaffen wir nicht, das schaffe ich nicht. – Aber … aber ich kann doch auch nicht einfach nur blöd hier rumstehen!
Er würgte die Übelkeit dahin zurück, wo sie hergekommen war. „Lina“, versuchte er zu ihr durchzudringen. „Ich bin es. Nick. Soll ich dir was auf der Gitarre vorspielen?“
Wie dämlich ist das denn?, fragte er sich, noch während er es aussprach, fuhr aber ähnlich armselig fort: „Kann ich dir irgendwie helfen?“
Lina ließ die Hände sinken. „Mendnoi ennk orm finhil.“ Zittrig kamen die Worte aus ihr heraus. „Mendnoi, Nick, Mendnoi.“
Gleichzeitig schien sie weniger zu werden, regelrecht einzuschrumpfen, sackte in sich zusammen, schloss den Bettkastendeckel über sich.
Marion klang dumpf. „Lass es gut sein. Ich werde Doktor Schilling anrufen.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Es gab in der Vergangenheit schon ähnliche Vorfälle. Lina wird sich beruhigen. Du wirst sehen. Also komm.“
Nick hörte sich erwidern: „Sofort. Ich komme sofort.“
Im Bettkasten – Totenstille.
„Sie braucht Ruhe.“ Marion zog die Jalousie herunter. Das helle Sonnenlicht verwandelte sich in das gedämpfte Orange eines verlöschenden Kaminfeuers, was tröstlich war. „Glaub mir. Ich gebe ihr ein oder zwei Tabletten. Alles wird wieder gut. Ganz bestimmt.“
Aber nichts war gut, brauste es in Nick. Gar nichts! Im Gegenteil, es war schlimmer als vorher. Er hatte es versaut und es nicht geschafft, sich Lina zu nähern. Er verstand ja nicht einmal, was sie sagte, wenn sie in ihrem … ihrem Linesisch sprach!
„Geh schwimmen.“ Thomas’ Worte. „Das hattest du doch heute vor. Hier können wir momentan nichts tun. Gönn dir ein kleines Ferienvergnügen mit deinen Freunden.“
„Wie soll das gehen? Kannst du mir das verraten?“ Nick wollte aufbrausen, brachte aber nur schwache Töne hervor.
„Versuch es wenigstens. Später sehen wir weiter.“
Nicks Kopfweh wurde schlimmer, hinter seiner Stirn pulsierte ein regelrechtes Trommelfeuer.
Er hätte es nicht erklären können, verstand es ja selbst nicht. Aber schlagartig konnte er es kaum noch erwarten, von hier zu verschwinden. Raus an die frische Luft, ans Wasser, ins Freibad zu kommen … zu entkommen!
Er wollte nichts mehr wissen von verstopften Badewannen und Duschorgien mit Pfirsichduft, von zertrampeltem Kuchen, zerstörten Pflanzen, ausgehobenen Gruben oder von diesem absolut unheimlichen Gewaltausbruch eben im Garten.
Und auch nichts von Mädchen, die Linesisch sprachen, sich krümmten und in Bettkästen hockten. Wo sie endlos weinten, als gelte es, mit den Tränen ein neues Meer zu erschaffen.
Wortlos wankte er aus dem Raum. Packte sein Zeug. Schwang sich auf das Rad. Trat in die Pedale. Rollte los.
Der Druck in seinem Kopf ließ nach. Er genoss die Sommerluft, die ihm besänftigend über die geplagte Stirn strich.
Er atmete ein. Und wieder aus. Im Wegfahren drehte er sich ein letztes Mal um.
Trotz alledem: Er vermisste sie. Die Katze auf dem Fensterbrett.
Später im Freibad, inmitten des hochsommerlichen Trubels, nachdem er seine Badeshorts angezogen hatte, legte er sein Badelaken und sein Zeug neben das von Max. Er hielt es aber nicht lange bei der Clique und ihrer lauten Unbekümmertheit aus. Also behauptete er, pinkeln zu gehen. Noch immer mit Linas
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