Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
sie, wo sie war.
„Dri … Dribrol … Dribalon …“ versuchte er das Wort zu wiederholen – bis sie ihm half, ihm Silbe für Silbe vorsagte, die er nachsprach: „Dir-bra-longs-zwol.“
Nick sagte es einige Male vor sich hin, bis es ihm flüssiger über die Lippen kam. Dirbralongszwol. Als es ihm das erste Mal einwandfrei gelang, huschte ein erfreuter Schatten über ihre Züge. Dirbralongszwol.
Das musste Bruder bedeuten. Aber in welcher Sprache?
Als er aufschaute, hatte Lina ihren Platz verlassen. Die Tür zum Sonnenzimmer war zu. Dahinter wurde der Bettkasten geöffnet und wieder geschlossen.
Das macht nichts, fand Nick. Sie wird wieder herauskommen und sie wird wieder sprechen. Bis dahin muss ich wissen, welche Sprache das ist.
Plötzlich, wie aus dem Off, erklang Marions Stimme: „O! Mein! Gott!“
Nick sprang auf, als seine Tante, einen Stapel seiner gebügelten T-Shirts an sich gepresst, an ihm vorbei in sein Zimmer drängte.
„Mann, hast du mich erschreckt!“, entfuhr es ihm. „Ich habe dich gar nicht kommen hören.“
„Nick! – Sie hat gesprochen! Sie hat tatsächlich mit dir geredet!“ Marion schien außer Rand und Band.
„Ja. Ich weiß“, entgegnete er belustigt.
„Was? Ich meine, was hat sie gesagt?“
„Keine Ahnung!“ Er wurde ernst. „Das war kein Deutsch, sondern irgendeine Sprache, die ich nicht kenne. Glaube ich zumindest.“ Und er wiederholte das Wort, das Lina ihm beigebracht hatte.
„Nie gehört.“ Marion zog die Stirn in nachdenkliche Falten. „Wahrscheinlich ist es Russisch.“
„Russisch?“
„Ach so! Das weißt du ja gar nicht. Linas Vater stammt aus Russland, hat man uns gesagt. Dahin ist er auch wieder zurückgegangen. Schon vor Jahren. Sie und ihr Bruder waren noch ganz klein.“ Die Erdkundelehrerin ging offensichtlich mit ihr durch: „Er lebt in der Gegend südlich von Welikije Luki, glaube ich. Im Russischen spricht man übrigens das unbetonte O als A …“
„Marion? Hallo?“
„Schon gut, schon gut!“ Sie strahlte ihn an, als könnte er Wunder vollbringen. „Vielleicht findest du im Internet etwas darüber. Bestimmt sogar! Immerhin liefert dir dieses Wort einen brauchbaren Anhaltspunkt. Das hast du wirklich gut gemacht! Ich muss es sofort Thomas erzählen.“
Sie tänzelte geradezu zum Kleiderschrank und räumte die Shirts ein, was sie nie tat. Sonst legte sie sein Zeug auf der Couch ab und überließ ihm das Einräumen, wie er es von Zuhause gewöhnt war.
Jetzt beugte sie sich zu Nick und küsste ihn schmatzend auf beide Wangen. „Bin schon wieder weg!“
Er wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte. Erst dann fuhr er den Computer hoch. Er registrierte flüchtig, dass seine Hände, seine Arme, seine Schultern und sein Hals so angespannt waren, wie vor einem Gig mit den „Outbreakers“.
Nick schob die Gedanken an seine Freunde beiseite. Er öffnete eine Suchmaschine und gab im gleichen Takt, wie er es vor sich hinmurmelte, „Dirbralongszwol“ ein.
Er hat keine Ahnung, ob das Wort richtig geschrieben war, tippte es so ein, wie Lina ihm die einzelnen Silben vorgesagt und betont hatte. Falls diese Variante hier falsch war, würde er halt andere ausprobieren – ein Kinderspiel. Mit ein bisschen Glück könnte er Lina zum Frühstück mit einem russischen Morgengruß überraschen … oder gegebenenfalls in einer anderen Sprache.
Sein Zeigefinger schwebte über der Tastatur. Und während in der Welt draußen weiter mit Hochdruck nach Jan gesucht wurde, startete Nick seine eigene Suche nach einem Weg, der ihn zu Lina führte.
Er drückte „Return“. Nick wusste nicht genau, was er eigentlich erwartet hatte.
Er wusste nur eins.
Das nicht.
Linas letzte Gedanken vor dem Einschlafen
Nick gibt sich solche Mühe mit mir! Dabei wäre es besser, wenn ich niemals geboren worden wäre. Heute Abend habe ich mich im Spiegel angesehen. Ich weiß nicht, warum Gott so welche wie mich überhaupt auf die Welt kommen lässt, ohne eine Sintflut auszulösen. Das ist einfach teuflisch!
Ich will duschen, bis ich nicht mehr schmutzig bin, alles abwaschen, mir am liebsten die Haut abziehen.
Unter der Dusche drehe ich das Wasser so heiß auf, bis ich das Brennen kaum noch ertragen kann. Ich seife mich ein und schrubbe mich ab, schrubbe und schrubbe, bis es blutet.
Aber der Gestank geht nicht weg. Der Dreck ist noch an mir. Ich bleibe schmutzig. Schmierig. Klebrig. Der Schmutz steckt viel zu tief in mir drin. Ich müsste Löcher in meinen Körper
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