Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
über den Rand ihrer Tasse hinweg verwirrt anblinzelte, ihre Miene ein einziges Fragezeichen.
Marion, die er zuvor eingeweiht hatte, löffelte angelegentlich ihr Müsli und zog heimlich eine bedauernde Grimasse in seine Richtung.
Wie ein Fußballspieler nach einem verlorenen WM-Finale sich fühlen mochte, genau so fühlte Nick sich. Und es sollte noch schlimmer kommen. Denn er ruinierte es vollends, als Thomas, der pfeifend am Herd stand und Rühreier briet, ihn bat, die Zeitung hereinzuholen.
Er vergaß in seiner Bedrücktheit, nach einem etwaigen Artikel über Jan Ausschau zu halten. Achtlos zog er die „Globale Welt“ aus dem Kasten und legte sie anschließend an Thomas’ Platz, direkt Lina gegenüber.
Dabei prangte die Schlagzeile in Riesenbuchstaben doch unübersehbar auf der Titelseite! Es folgte das Bild von Jan. Das ernste, kindliche Gesicht eines Jungen mit dunkelblonden Haaren und hellen Augen.
Und das Unglück nahm seinen Lauf. Prompt saugte Lina den Bericht Wort für Wort auf:
FALL JAN:
POLIZEI GLAUBT,
DER JUNGE IST TOT!
Im Fall des verschwundenen Jan befürchten die Beamten, dass der Junge nicht mehr am Leben ist. Man wolle zwar nichts ausschließen, es sei jedoch unwahrscheinlich, Jan noch lebend zu finden, sagte Soko-Jan-Leiter Bernd Schweigert.
Hunderte von Hinweisen wurden bisher im Zuge der Ermittlungen ausgewertet. Und die zuständige Sonderkommission wird nochmals personell aufgestockt, um die Fahndung auszuweiten. Doch die Suche könne noch über Monate dauern, erklärte Schweigert. Denn eine heiße Spur gebe es nicht. Die Polizei zeigt sich jedoch mittlerweile davon überzeugt, dass der mutmaßliche Täter aus dem Umfeld des Vermissten stammt.
Jan wird am kommenden Samstag seit 55 Tagen vermisst. Er verschwand abends vom Hof des Hauses, in dem sich die elterliche Wohnung befindet, als er sein Fahrrad in der Garage unterstellen wollte.
Die Ermittler hoffen weiter auf sachdienliche Hinweise und fragen: Wer weiß etwas über Jans Verschwinden?
Darunter waren das zuständige Kommissariat und eine Hotline aufgeführt sowie der Hinweis, dass jede Polizeidienststelle Hinweise entgegennahm und diese vertraulich behandelte.
Langsam, zögernd stand Lina auf. Mit gesenktem Kopf ging sie an Thomas vorbei ins Wohnzimmer. Sie schob die Terrassentür auf und schlüpfte in den Garten.
Erst jetzt fiel den dreien in der Küche die reißerische Überschrift auf. Schlagartig wurde ihnen klar, dass Lina es gelesen haben musste, die Schlagzeile sowie den Artikel. Und es war zu spät, es zu verhindern. Zu spät.
Nick sprang alarmiert auf. „Ach du Scheiße!“
Im selben Moment ging Lina in Richtung der Nutzbeete, mit Bewegungen wie einstudiert, so unnatürlich, so holprig muteten sie an.
Vom Fenster aus beobachteten Nick, Marion und Thomas das Geschehen. Und was sich da vor ihren Augen abspielte, würde Nick wohl sein Lebtag mit sich herumtragen.
Lina umklammerte mit beiden Händen den Spaten, der zum Umgraben benutzt wurde und im Sommer griffbreit bei den Obst- und Gemüsebeeten stand. Tränen strömten ihr über das Mangagesicht und ein kehliges, obszönes Plärren brach sich Bahn, rollte aus ihrem Brustkasten durch den Hals und aus ihrem Mund, während das stählerne Blatt in die Erde schnitt.
Weicher Boden klaffte auf, Fetzen von dreiteiligen Blättchen und weißen Blüten verteilten sich, dazwischen schimmerten zermatschte Erdbeeren, rot wie frisch geschlagene Wunden.
Es kam Nick vor, als wäre das Beet ein tödlich verletztes Lebewesen, das sich unter der Brutalität der Spatenschläge wand. Lina bot einen unbeschreiblich gewalttätigen Akt der Zerstörung, den er ihr nie im Leben zugetraut hätte.
Und sie machte weiter, grub und hackte, völlig enthemmt, ohne Zögern, ohne den Hauch eines klaren Verstandes, offenbar nur darum bemüht, eine tiefe Grube auszuheben.
Paralysiert standen sie am Fenster, unfähig zu handeln. Ein Schmerz pulsierte wieder hinter Nicks rechtem Auge und begann sich tiefer in sein Hirn zu schrauben, ein scharfes Stechen, wie er es nur selten gefühlt hatte.
Schnaufend hielt das Mangamädchen inne. Ihre Hände ließen den verwitterten Spatenstiel los. Sie ging mit dem Gerät zu Boden, rollte in die Grube, die Nick an ein Grab denken ließ. Sie durchwühlte das aufgebrochene Erdreich und schrie zum Steinerweichen, die Wortfetzen: „Jan, egs uchd esw! Uttg! Ochtn no esd Uchl. Tibot ochtn.“
Endlich schreckten Marion und Thomas aus ihrer Erstarrung auf! Marion
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