Der Sommerfaenger
euch.«
Draußen versuchte sie zum hundertsten Mal vergeblich, Jette anzurufen. Warum, zum Geier, meldete sie sich nicht? Sie alle standen unter einem enormen Druck. Jette musste doch wissen, dass ihre Freunde sich Sorgen machten, wenn sie Anrufe nicht entgegennahm.
Sie drückte Mikes Nummer.
»Hi«, sagte er, und selbst die eine Silbe klang beunruhigt.
»Hast du was von Jette gehört?«, fiel Merle mit der Tür ins Haus.
»Nein, wieso?«
»Ich kann sie nicht erreichen.«
»Geht der Ruf durch?«
»Ja. Aber sie reagiert nicht.«
»Vielleicht hat sie ihr Handy irgendwo liegen lassen. Oder sie haben einen Notfall. Das muss nichts bedeuten.«
Merle hörte, wie Mike sich leise mit Ilka besprach. Dann war er wieder da.
»Ilka meint auch, wir sollten cool bleiben.«
»Vielleicht hat sie recht«, sagte Merle, ohne es wirklich zu glauben. »Die eine Stunde halten wir auch noch aus. Ach, ich hab Ann und Robbie zum Abendessen eingeladen. Ist das okay?«
»Ein bisschen frischer Wind kann uns bestimmt nicht schaden«, sagte Mike.
»Hab ich mir auch überlegt.«
Merle steckte das Handy in die Tasche und ging nachdenklich zu den Hundezwingern, um zu sehen, ob Ann bei irgendwas Hilfe brauchte. Das Gespräch mit Mike hatte sie ein wenig beruhigt, aber ein Rest von Unbehagen war geblieben. Sie wünschte, die Zeiger der Uhr würden sich ein bisschen schneller drehen.
25
Die Unfallstelle war zügig geräumt worden, dennoch hatte der Stau mich wertvolle Zeit gekostet. Inzwischen befand ich mich auf der A1 und holte aus Beckies Punto heraus, was in ihm steckte.
Ich würde mich verspäten .
Würde Luke auf mich warten? Sich noch mal melden, um sich zu vergewissern, dass ich auf dem Weg zu ihm war?
Oder hätte ich ihn dann für immer verloren?
Mir war schlecht vor Aufregung, Angst und Ungewissheit.
Ein paar Mal hatte mein Handy geklingelt. Der Ton war mir durch Mark und Bein gegangen, aber es war immer nur Merle gewesen, mit der ich jetzt unmöglich reden konnte. Sie würde meiner Stimme sofort anmerken, dass ich ihr etwas verschwieg.
Es war besser, wenn sie nichts wusste.
In Beckies Wagen fühlte ich mich allmählich zu Hause. Auf dem Boden vor dem Beifahrersitz stand ein verknautschter Leinenbeutel voller Bücher. Daneben lagen ein Paar abgenutzter Laufschuhe und mehrere leere Wasserflaschen.
Im Seitenfach der Fahrertür steckten eine angebrochene Tüte Kartoffelchips und zwei Müsliriegel. Dahinter klemmten eine ramponierte Parkscheibe, ein Eiskratzer und mehrere Ansichtskarten.
Im Fach der Beifahrertür hatte Beckie Müll gesammelt. Benutzte Taschentücher, eine zerknüllte McDonald’s-Tüte, einen eingedrückten Cappuccinobecher und eine mehrmals zusammengefaltete Ausgabe des Express .
Auf dem Rücksitz lagen Klamotten und zwei Teleskop-Walkingstöcke.
Beckie und Sport?
Beckie und der Express ?
»Hör zu, Beckie«, versprach ich ihr. »Sobald das hier vorbei ist, werden wir uns besser kennenlernen. Wir fangen noch mal ganz von vorne an.«
Bei Wermelskirchen verließ ich die Autobahn und fuhr das letzte Stück über Land.
Beckie hatte mir ihren Punto mit vollem Tank überlassen, wofür ich ihr dankbar war. So brauchte ich keine weitere Zeit an einer Tankstelle zu vergeuden.
Auf meinem Weg kam ich durch einen winzigen Ort, der den Namen Hoffnung trug. Ich nahm das als gutes Zeichen. Nur mein dummes Herz war anderer Meinung. Es schlug so hart und schnell, dass mir die Luft wegblieb.
Die Sonne leuchtete auf den sanft gewölbten Wiesen. Das dunkle, schwere Grün der Laubbäume zeigte hier und da bereits gelb verfärbte Stellen. Der Sommer holte zum großen Finale aus.
Das alles machte mich traurig.
Die sauberen Schieferhäuser hinter ihren kerzengeraden Zäunen. Die gefleckten Kühe auf den Weiden. Die menschenleeren Straßen.
Ich bog in den ersten Waldweg ein und in den Schatten der hochgewachsenen Tannen. Augenblicklich überschwemmten mich die Erinnerungen.
Ich sah Gorg vor mir, wie er lachte und die Arme ausstreckte. Das Licht tanzte auf seinem Haar und ließ seine Augen strahlen. Ich spürte seine Berührung. Hörte ihn meinen Namen flüstern. Fühlte seinen warmen Atem am Ohr …
Im nächsten Moment hatte ich angehalten und die Tür aufgestoßen. Ich lief ein paar Schritte in den Wald hinein, spürte den weichen Boden unter den Füßen und verlor vollends die Kontrolle. Ich hielt mir die Ohren zu und hätte mir am liebsten auch die Nase verstopft.
Dieser Duft nach Tannen, Flechten und
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