Der Sommerfaenger
auf den Weg zur Heimleiterin. Daran, dass die Angehörigen des toten Mädchens benachrichtigt werden mussten, wollte er jetzt noch nicht denken.
*
Wahrscheinlich hatte Jette ihr Handy verschusselt, oder sie war gerade in einer Situation, in der sie nicht telefonieren konnte.
»Vielleicht ist der alte Drachen zu einem Kontrollbesuch aufgetaucht«, spottete Merle.
Sie nannte Frau Stein gern so, auch wenn Jette behauptete, dass die Heimleiterin tief in ihrem Innern verborgen ein goldenes Herz besaß.
Sehr, sehr tief verborgen.
Die grobschlächtige Frau entsprach exakt dem Klischee vom deutschen Mann: außen hart und innen weich. Woran man erkennen kann, dachte Merle, dass Klischees abgeschafft gehören.
Ann und Robbie grinsten vorsichtig.
Der Schock von gestern war zu gewaltig gewesen, und obwohl die äußeren Anzeichen des Überfalls beseitigt waren und die jungen Katzen aus Godorf die Auffangstation wieder mit Leben füllten, hatte jeder von ihnen das Gefühl, das Blut der toten Tiere noch riechen und schmecken zu können.
Ohne dass sie sich abgesprochen hätten, trafen sie sich zwischendurch immer wieder im Büro, wie um einander das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein.
Noch eine knappe Stunde, dann war der Dienst für heute zu Ende.
»Was haltet ihr davon, wenn ihr mit nach Birkenweiler kommt?«, fragte Merle. »Wir könnten uns was Leckeres kochen. Das würde uns allen guttun. Die Stimmung ist ziemlich im Keller, seit Mike …«
Sie musterte die Gesichter.
»Entschuldigung. War ’ne blöde Idee. Ich kann verstehen, dass ihr keine Lust habt, euch der Gefahr auszusetzen.«
»Hältst du uns für feige?«, fragte Ann.
»Ich …« Merle schluckte. »Natürlich nicht. Ich dachte bloß …«
»Wenn man so einem Verirrten das Feld überlässt, hat man verloren«, sagte Robbie.
Er stammte aus Yorkshire und war für ein Jahr nach Deutschland gekommen, weil er sich in ein Mädchen aus Köln verliebt hatte.
Die Liebe hatte sich in Luft aufgelöst. Robbie war geblieben.
Das Jahr war bald vorüber, doch niemand sprach darüber, nicht einmal er selbst.
Merle hoffte, dass er noch eine Weile bleiben würde.
»Einem Irren«, verbesserte Ann.
Robbies Deutsch war nahezu perfekt. Nur manchmal verdrehte er einen Satz oder benutzte ein falsches Wort. Merle mochte seine Art zu reden. Sie liebte seinen Akzent und hätte ihm stundenlang zuhören können.
»Einem Irren.« Robbie nickte. »Du kannst ihm nur durch Beharrlichkeit die Stirn zeigen.«
Bieten, dachte Merle automatisch, äußerte es aber nicht.
»Ihr kommt also mit?«
Bei dem unwillkürlichen Blick, mit dem die beiden sich verständigten, und dem gleichzeitigen »Klar« fiel es Merle wie Schuppen von den Augen.
Die beiden waren im Begriff, sich ineinander zu verlieben.
Wahrscheinlich wussten sie es selbst noch nicht, dabei waren die Anzeichen nicht zu übersehen.
»Okay.« Sie lächelte in sich hinein. »Die andern werden sich freuen. Was haltet ihr von Spaghetti?«
Wenige Minuten später waren sie wieder bei der Arbeit. Ann schaute noch einmal nach den Hunden, Robbie führte ein paar Telefongespräche, und Merle ging zu den Katzen.
Sie waren in die hinterste Ecke zurückgewichen, drückten sich zitternd aneinander und starrten ihr ängstlich entgegen.
»Hey«, sagte Merle sanft.
Sie machte vorsichtig die Tür hinter sich zu.
»Ich weiß, das ist schwer für euch, aber da draußen konntet ihr nicht bleiben.«
Sie sprach mit leiser Stimme, vermied jede Bewegung, um die Tiere nicht zu erschrecken.
»Das Leben auf der Straße ist viel zu gefährlich.«
Bleibt lieber hier drin und lasst euch ermorden .
Sie duckten sich flach auf den Boden, die spitzen kleinen Gesichter voller Panik.
»Schaut mal, ich hab euch was mitgebracht.«
Mit ruhigen Schritten durchquerte Merle den Raum. Die Blicke der Katzen folgten ihr. Eines der Tiere fing an zu knurren.
Merle hob zwei frische Futternäpfe aus dem Regal und stellte sie auf den Boden. Sie zog ein Päckchen aus ihrer Gürteltasche und hielt es den Katzen hin.
»Zartes Hähnchenfleisch, extra für euch gekocht.«
Beim Knistern der Folie stoben sie in sämtliche Richtungen auseinander und versteckten sich hinter den Schlafkörben. Merle gab das Fleisch in den einen Futternapf und füllte den zweiten mit Trockenfutter. Sie wechselte das Trinkwasser und reinigte die Katzenklos.
Dann war nichts mehr zu tun und Merle löschte das Licht.
»Bis morgen, ihr Süßen. Dann schau ich wieder nach
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