Der Sommerfaenger
den toten Albert in der Badewanne voller Blut hab ich mir wohl auch bloß eingebildet?«
Zerknirscht ließ Merle das Brötchen sinken.
»Hast ja recht. Entschuldige.«
»Dieser Typ neulich in Köln«, sagte ich zögernd, »der Luke Alex genannt hat. Was, wenn das keine Verwechslung war?«
»Du meinst, Luke führt ein … Doppelleben?« Merle erwog das kurz und schüttelte dann zweifelnd den Kopf. »Nicht auszuschließen. Klingt aber kaum wahrscheinlicher als die vierte Möglichkeit.«
Die vierte Möglichkeit …
»Luke hat es nicht getan«, sagte ich bestimmt.
»Und da bist du dir ganz sicher?«
»Er hat es mir gesagt.«
»Deiner Mailbox, um genau zu sein.«
»Komm schon, Merle, was soll das? Wir hinterlassen uns doch auch dauernd Nachrichten, du und ich.«
»Aber dabei geht es nicht um Mord, Jette.«
»Luke ist kein Mörder.«
Ich schob meinen Teller weg, ohne das Brötchen darauf angerührt zu haben. Der Appetit war mir gründlich vergangen. Keine von uns sagte etwas. Merle starrte bedrückt aus dem Fenster. Sofort wusste ich, was sie dachte.
Ich war schon einmal blind gewesen vor lauter Liebe.
Caro , dachte ich. Bitte verzeih mir .
Ich wartete, bis Merle mit ihrem Brötchen fertig war, dann standen wir auf und machten uns auf den Rückweg. Ich war richtig froh darüber, dass wir uns nur einen halben Tag freigenommen hatten. Ich sehnte mich danach, mich in die Arbeit zu stürzen.
Wir hatten nichts erreicht und ich wusste nicht weiter. Ab jetzt waren mir die Hände gebunden. Wenn Luke sich nicht meldete, würde ich ihn niemals finden.
Auf einmal bekam ich eine Stinkwut auf ihn.
Ruf an, dachte ich. Verdammt noch mal, MELDE DICH ENDLICH !
*
Luke war froh, dass das Wochenende und damit die Ruhe auf den Straßen vorüber war. Er hatte einen Bummel durch die Innenstadt gemacht und ein paar Lebensmittel eingekauft. Obst, Käse, Brot und Wasser. Das sollte fürs Erste reichen. Er hatte nicht vor, sich in Hildesheim einzurichten, sondern wollte von einem Tag zum andern entscheiden, ob er blieb oder nicht. Noch war er nicht sicher. Vielleicht würde er es nie wieder sein.
Unter einem der gelben Sonnenschirme vor einem kleinen Eiscafé bestellte er sich einen Erdbeerbecher und einen großen Cappuccino. Die Einkaufstüte hatte er griffbereit auf den Stuhl neben sich gestellt. Niemandem würde es gelingen, ihn zu überraschen.
Zum ersten Mal überlegte er, ob er sich eine Waffe besorgen sollte. Bisher hatte er sich stets dagegen entschieden. Aussteigen konnte man nur ganz oder gar nicht. Für seine Aussage gegen Leo und die Führungsriege der Organisation war ihm Strafminderung zugesagt worden. Das galt jedoch nicht für neue Gesetzesverstöße.
Luke zuckte zusammen.
Die Organisation .
Erschrocken fragte er sich, wie der Prozess ohne seine Aussage verlaufen würde. Leo und seine Leute durften nicht davonkommen. Auf gar keinen Fall.
Als er bezahlte, war es bereits Mittag. Auf dem Weg zu seiner Unterkunft kam er an der Justizvollzugsanstalt für Frauen vorbei, einem alten, schönen Gebäude am Godehardsplatz. Schläfrig und friedlich lag es in der Mittagssonne. Nur die vergitterten Fenster in den dicken Mauern und die breiten Stacheldrahtbarrieren deuteten auf die Dramen hin, die sich in seinem Innern abspielen mochten.
Luke stieg die Außentreppe zu seinem Apartment hoch. Die Tüte an seiner Hand knisterte, wenn sie gegen sein Knie schlug. Voller Freude dachte er an die Geschenke, die er für die Kleine mitgebracht hatte, einen Plüschelefanten mit knautschigem Rüssel und flattrigen Ohren und ein Buch mit frechen Kindergedichten.
Er stellte sich vor, wie sie mit ihren kleinen dicken Fingern danach griff, den Elefanten an sich drückte und sich an die Mutter kuschelte, die ihr mit leiser Stimme vorlas. Er fühlte das Lächeln auf seinem Gesicht und merkte, dass er die letzten Stufen unwillkürlich schneller nahm.
Als er den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, schwang die Tür von selbst langsam auf. Luke steckte den Kopf ins Zimmer und schaute sich rasch um. Nichts schien verändert, außer dem Bett. Jemand hatte das Kissen aufgeschüttelt und die Zudecke glattgestrichen. Die Tür zum Badezimmer stand einen Spaltbreit offen. Luke erinnerte sich nicht mehr daran, ob er sie zugezogen hatte oder nicht.
Er lauschte. Kein Laut. Die langen, fast transparenten weißgrauen Vorhangschals an den Fenstern wehten leise im Luftzug, sonst bewegte sich nichts. Ein Hauch von Zitrone lag im Raum, offenbar von
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