Der Sommerfaenger
ich war ihm dankbar für diesen vernünftigen Einwurf, auch wenn wir alle sicher waren, dass es sich bei dem Informanten um Luke handelte.
»Genau.« Ich starrte Ilka trotzig in die Augen. »Wir vermuten es doch bloß.«
»Bleibt immer noch der Mord an Albert«, entgegnete sie. »Wieso ist Luke so plötzlich verschwunden? Er hätte doch …«
»Sag mal, willst du eigentlich, dass Luke ein Ungeheuer ist?«
Ich hatte mich neben Ilkas Stuhl aufgebaut, sodass sie zu mir hochgucken musste.
»Kannst du ihm nicht so etwas wie … Grundvertrauen entgegenbringen?«
Grundvertrauen? Wie konnte ich von Ilka verlangen, was ich selbst nicht schaffte?
»Es heißt nicht umsonst Im Zweifel für den Angeklagten «, sagte Merle.
»Was soll das?«
Ilka schob ihren Stuhl zurück und stand jetzt vor mir, so nah, dass ich ihren Atem auf dem Gesicht spürte.
»Ist in diesem Haus neuerdings das Denken verboten? Wollt ihr mir einen Maulkorb verpassen?«
Sie fuchtelte erregt mit den Händen in der Luft herum.
»Was erwartet ihr von mir?«
»Solidarität vielleicht«, sagte ich kalt.
Ilka war aus der Küche gelaufen. Mike hatte mich mit einem vorwurfsvollen Blick bedacht und war ihr gefolgt.
War das wirklich erst ein paar Stunden her?
»Hey, Schlafmütze! Es geht weiter.«
Merle stupste mich an und holte mich aus der Erinnerung zurück. Und schon hupte der Mercedesfahrer hinter uns. Ich legte den ersten Gang ein und der Wagen kroch vier, fünf Meter weiter.
»Und wenn wir in Hildesheim sind?«, fragte Merle. »Ich meine, falls uns das bei diesem halsbrecherischen Tempo jemals gelingen sollte. Wo fangen wir an?«
»Keine Ahnung.«
Wir hatten noch keine Zeit gehabt, uns einen Plan zurechtzulegen.
Merle gähnte zum Steinerweichen. Kurz darauf sackte ihr Kopf an die Scheibe und sie war eingeschlafen.
Eine Stunde später waren wir zwei Kilometer vorangekommen und standen noch immer im Stau. Merle machte die Augen auf, sah sich um, kippte ihren Sitz nach hinten, rollte sich zusammen und machte die Augen wieder zu.
Luke, dachte ich und versuchte es mit Telepathie. Wo immer du sein magst, bitte, gib mir ein Zeichen!
Und wenn er das gar nicht wollte?
Wenn er mich wirklich verlassen hatte?
*
Imke nahm das Mobiltelefon – und legte es auf den Schreibtisch zurück.
Sie schrieb ein paar Sätze – und löschte sie wieder.
Sie brühte sich einen Tee auf – und rührte ihn nicht an.
Schließlich schnappte sie sich das Telefon und trug es durchs Haus, unfähig, eine Entscheidung zu treffen.
Sie war sich hundertprozentig sicher, dass die Mädchen nicht einfach ein paar Tage weggefahren waren, wie Jette es in ihrer SMS behauptete. Sie waren unterwegs, um Luke aufzustöbern und seine Unschuld zu beweisen.
Falls er unschuldig war.
Diese Wahnsinnigen …
Sie durchquerte mit Riesenschritten das Wohnzimmer, den Wintergarten, die Küche, tigerte in der Eingangshalle auf und ab wie eingesperrt, das Telefon immer in der Hand. Sollte sie Bert Melzig anrufen oder nicht?
Das nennt man einen klassischen Loyalitätskonflikt, dachte sie.
Wenn sie den Kommissar über ihren Verdacht informierte, lieferte sie ihm Jette und Merle damit aus. Tat sie es nicht, schützte sie die Mädchen einerseits vor dem Ärger mit der Polizei, ließ sie jedoch andrerseits geradewegs in die Gefahr laufen.
Und enttäuschte sein Vertrauen.
Als sie wieder an ihrem Schreibtisch saß, hatte sie endlich einen Entschluss gefasst.
»Melzig.«
Er klang sachlich und Respekt einflößend.
Imke hatte ihn schon anders gehört, sanft und liebevoll und so, dass sie Gänsehaut bekommen hatte.
Als sie sich vor wenigen Monaten vor dem Stalker hatte verstecken müssen, war der Kommissar die einzige Verbindung zu ihrem normalen Leben gewesen.
Und die einzige Versuchung.
Imke wurde rot und war froh darüber, dass er es nicht sehen konnte.
»Jette und Merle sind offenbar wieder dabei, Dummheiten zu machen«, erzählte sie ihm übergangslos. »Meine Tochter hat mir eine SMS geschickt und sie beide für ein paar Tage abgemeldet.«
»Sie wissen nicht, wo sie stecken?«
»Nein.«
»Und ihre Freunde?«, fragte er nach kurzem Schweigen.
Imke hatte überhaupt nicht daran gedacht, bei Mike und Ilka nachzufragen.
»Natürlich.« Gott, war ihr das peinlich. »Da hätte ich zuerst anrufen sollen. Vielleicht hätte ich Sie dann nicht belästigen müssen. Entschuldigen Sie bitte.«
»Sie belästigen mich nicht. Das wissen Sie doch.«
Seine Stimme war wie ein
Weitere Kostenlose Bücher