Der Sommermörder
trat ohne nachzudenken an den Rand des Bretts – und schon war es passiert. Genauso machte ich es jetzt.
Ich griff nach dem ersten Fotoalbum. Es hatte einen knallroten Einband, und eigentlich hätten Aufnahmen von kleinen Mädchen hinein gehört, die Kerzen auf Geburtstagstorten ausbliesen, oder von Familien, die am Strand Ball spielten. Ich schlug es auf und blätterte mechanisch eine Seite nach der anderen um. Im Grunde war auf den Bildern nicht viel zu sehen. Ich blätterte zum Anfang zurück, um sicherzugehen. Ja, es handelte sich um den Tatort des Mordfalls Zoë Haratounian. Ihre eigene Wohnung. Und dann sah ich sie. Mit dem Gesicht nach unten auf einem Teppich. Sie war weder nackt noch irgendwie entstellt. Nichts dergleichen. Mit ihrem Slip und ihrem T-Shirt sah sie gar nicht aus wie eine Tote. Genauso gut hätte sie schlafen können. Ein Band oder eine Krawatte war fest um ihren Hals geschlungen, der auf mehreren Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln festgehalten war. Ich aber starrte immer wieder auf den Slip und das T-Shirt. Ich musste daran denken, dass sie diese Sachen am Morgen angezogen hatte, ohne zu wissen, dass sie sie nie wieder ausziehen würde. Immer sind es solche blöden Gedanken, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Ich legte das Album beiseite und griff nach dem zweiten, um mir den Tatort in Jennifer Hintleshams Haus anzusehen. Ich begann zu blättern, wie ich es auch beim ersten getan hatte, aber dann hielt ich plötzlich inne.
Dieser Tatort sah völlig anders aus. Es war bloß eine einzelne Aufnahme, eine einzelne Szene, aber ich nahm sie in Fragmenten wahr: Offene, starrende Augen, Draht um den Hals, zerrissene oder aufgeschlitzte Kleider, gespreizte Beine und eine Art Metallstab, der in ihren Körper hineingerammt war. An welcher Stelle, konnte ich nicht mehr sehen. Ich warf das Album auf den Tisch und stürzte zum Spülbecken. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig, bevor ich mich übergab. Das Bild, das sich mir bot, als ich schließlich nach unten blickte, war ekelhaft.
Ich wusch mir das Gesicht mit warmem und kaltem Wasser und machte mich dann an die widerlichste Abspülaktion meines Lebens. Das Hantieren mit Tellern und Tassen beruhigte mich irgendwie, sodass ich hinterher in der Lage war, zum Tisch zurückzugehen und das Album zuzuschlagen, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen.
Mir blieb nicht viel Zeit, ich würde selektiv vorgehen müssen. Rasch sah ich die Akten durch, um mir einen Überblick zu verschaffen. Ich sah Pläne von Zoës Wohnung und Jennifers Haus. Ich überflog Zeugenaussagen. Sie waren zum Teil so umfangreich, weitschweifend und langatmig, dass es fast unmöglich war, etwas Substanzielles herauszufiltern. Zoës Freund Fred äußerte sich über ihre wachsende Angst und seine Versuche, sie zu beruhigen. Ihre Freundin Louise klang völlig aufgelöst. Sie hatte draußen vor der Wohnung in ihrem Wagen gewartet, während Zoë erdrosselt wurde.
Die Zeugenaussagen zum Mord an Jennifer füllten zehn dicke Akten. Ich konnte kaum mehr tun, als mir die Namen der Befragten anzusehen. Es handelte sich hauptsächlich um Personen, die für Jennifer gearbeitet hatten. Offenbar hatten die Hintleshams eine Menge Leute beschäftigt.
Die gerichtsmedizinischen Berichte über die beiden Frauen sah ich mir etwas genauer an. Der von Zoë war kurz und bündig: Sie war mit dem Gürtel ihres Bademantels stranguliert worden. Ihre Leiche hatte ein paar kleinere Quetschungen auf gewiesen, die man aber nur auf die Gewaltanwendung zurückführte, die nötig gewesen war, um sie während der Strangulation festzuhalten. Vaginale und anale Abstriche hatten keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch ergeben.
Der Bericht über Jennifers Tod war wesentlich länger.
Ich notierte mir nur ein paar Einzelheiten: Tod durch Erdrosselung, eine tiefe, schmale Furche am Hals, verursacht durch den benutzten Draht. Schnitt- und Stichwunden. Diverse Blutspuren und -lachen. Dammriss.
Zahlreiche Spuren von Urin: Sie hatte sich vor Angst angepinkelt.
Eine dicke Akte handelte von der Analyse der Briefe.
Sie enthielt unter anderem Fotokopien der an Zoë und Jennifer geschickten Briefe. Ich überflog sie mit dem makabren Gefühl, gestohlene Liebesbriefe zu lesen. Mit ihren Versprechungen und Schwüren waren es im Grunde tatsächlich Liebesbriefe. Dann stieß ich auf eine Zeichnung, die eine verstümmelte Zoë darstellte.
Seltsamerweise war es von all den schrecklichen Bildern, die ich an diesem Tag
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