Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
Gesicht. Mein Hals und meine Lymphknoten schmerzten. »Nein, ich kann nicht mehr.«
    »Hör zu, Nadia. Du bist tapfer. Ich glaube an dich.«
    Das wiederholte er immer wieder: »Ich glaube an dich.
    Du bist tapfer.« Ich weinte weiter und widersprach ihm hin und wieder schniefend. »Ich bin nicht tapfer« und:
    »Nein, ich kann nicht mehr.« Aber irgendwie taten mir seine Worte gut, sodass ich immer weniger protestierte.
    Irgendwann hörte ich mich sogar lachen, weil Zach mir beteuerte, dass ich ganz bestimmt hundert Jahre alt werden würde. Ich musste ihm versprechen, etwas zum Frühstück zu essen. Er sagte, er werde mich in einer Stunde oder so noch einmal anrufen und später vorbeikommen, um nach mir zu sehen.
    Gehorsam toastete ich mir etwas Weißbrot, das schon ziemlich altbacken aussah, und aß es zu einer großen Tasse schwarzem Kaffee. Ich saß in der Küche und starrte aus dem Fenster. Draußen ging ein Typ mit einer Baseballkappe und einer weiten Hose vorbei. Er hatte die Lippen gespitzt und pfiff eine Melodie vor sich hin. Der könnte es sein, dachte ich. Oder der mit dem Kopfhörer, der einen kläffenden Hund hinter sich herzog. Oder der Typ mit dem struppigen Bart und dem schütter werdenden Haar, der an einem brütend heißen Augustnachmittag einen Steppanorak trug. Im Grunde konnte es jeder sein.
    Ich versuchte, nicht an die tote Jenny zu denken. Wenn ich mir dieses Foto ins Gedächtnis rief, schnürte mir die Panik fast die Kehle zu. Bevor ich die Akten gesehen hatte, war der Killer eine vage drohende Gefahr gewesen, etwas Abstraktes und fast Irreales. Zoës liebes Gesicht hingegen hatte nichts Abstraktes, ebenso wenig wie Jennys grotesk verunstaltete Leiche. Ich spürte, wie sich zögernd ein Teil von mir regte, der einen ganz persönlichen Hass auf diesen Killer zu empfinden begann: ein intimes, zielgerichtetes Gefühl. Ich saß am Küchentisch und hielt dieses Gefühl fest, bis es in meinem Kopf deutlicher Gestalt annahm. Er war keine Wolke, kein Schatten, keine schreckliche Präsenz in der Luft – er war ein Mann, der zwei junge Frauen getötet hatte und nun mich töten wollte. Er gegen mich.
    Ich griff nach einem ungeöffneten Brief, der mich schon auf dem Umschlag darüber informierte, dass ich bereits einen Preis gewonnen hatte. Ich begann mir auf der Rückseite des Kuverts Notizen zu machen. Was wusste ich über den Mann? Er hatte Zoë Mitte Juli umgebracht, Jenny Anfang August. Grace zu Folge handelte es sich um einen Fall »eskalierender Gewalt«. Ein silbernes Medaillon, das Jenny wochenlang vermisst hatte, war in Zoës Wohnung gefunden worden, ein Foto von Zoë zwischen Clives Papieren, aber das waren die einzigen Dinge, die eine Verbindung zwischen den beiden Frauen herstellte. Das einzige schwache – und wie sich herausstellte, bedeutungslose – Bindeglied zwischen mir und Jenny war Morris. Ich ging im Geist die anderen Leute durch, die befragt worden waren: Fred natürlich, wenn auch nie als Verdächtiger, weil er bereits überprüft worden war, bevor der Mord überhaupt passierte. Clive, der Immobilienmakler Guy, ein Geschäftsmann namens Nick Shale, ein früherer Freund von Zoë, der gerade von einer Weltreise zurückgekehrt war, außerdem ein paar Architekten, Bauarbeiter, Gärtner und Reinigungskräfte, die für Jenny gearbeitet hatten. Und jetzt Morris. In meinen Augen hatte die Polizei bisher nichts anderes getan, als einen Verdächtigen nach dem anderen von der Liste zu streichen.
    Ich nippte an meinem kalt gewordenen Kaffee. Was bedeutete das für mich? Dass ich weiterhin an meinem Küchentisch sitzen und erbärmliche Versuche unternehmen müsste, selbst Detektiv zu spielen? Um währenddessen bei jedem Mann, der draußen vorbeiging, zu denken: der oder der oder keiner von denen? Ich rannte mit dem Kopf gegen dieselbe Wand, gegen die die Polizei schon seit Wochen anlief.
    Ich holte den Zettel mit den Namen und Adressen, die ich mir aus den Polizeiakten herausgeschrieben hatte. Ich starrte auf sie hinunter, bis die Schrift vor meinen Augen verschwamm. Dann holte ich tief Luft und griff nach dem Telefonhörer. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
    »Guten Morgen, Clarke’s. Kann ich Ihnen helfen?« Eine Frauenstimme, der man anhörte, dass ihr eifriger Tonfall bloß geheuchelt war.
    »Ich habe gehört, dass Sie eine Wohnung in der Holloway Road verkaufen. Meinen Sie, ich könnte sie mir mal ansehen?«
    »Einen Moment bitte!« Ein paar Minuten lang saß ich da und lauschte einer

Weitere Kostenlose Bücher