Der Sommermörder
Melodie von Bach, gespielt auf einer elektronischen Kinderorgel.
Dann meldete sich eine Männerstimme, die ihre Anwesenheit in der Leitung zunächst durch ein diskretes Hüsteln ankündigte.
»Hier spricht Guy. Kann ich Ihnen helfen?«
Ich wiederholte mein Anliegen.
»Großartig«, sagte er. »Eine äußerst günstig gelegene Wohnung.«
»Kann ich sie mir heute ansehen?«
»Auf jeden Fall. Wir wär’s mit heute Nachmittag?«
»Hat der Besitzer denn da Zeit?«
»Ich werde selbst kommen und sie Ihnen zeigen.«
Was war ich doch für ein Glückspilz.
Ich rief auch noch die nächste Nummer auf meinem Zettel an. Warum, weiß ich nicht genau. Vielleicht weil die dazugehörige Frau die einzige Person in den ganzen Akten gewesen war, die traurig geklungen hatte.
»Hallo?«
Wie sollte ich nur beginnen. Ich entschied mich dafür, offen und ehrlich zu sein.
»Ich bin Nadia Blake. Sie kennen mich nicht. Ich wollte mit Ihnen über Zoë sprechen.« Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment Schweigen. Ich konnte sie nicht mal atmen hören. »Entschuldigen Sie«, sagte ich.
»Ich wollte Sie nicht aufregen.«
»Wer sind Sie? Eine Journalistin?«
»Nein. Ich bin wie sie. Ich meine, ich bekomme auch Briefe von dem Mann, der sie umgebracht hat.«
»O mein Gott! Das ist ja schrecklich. Nadia, sagen Sie?«
»Ja.«
»Kann ich irgendwas für Sie tun?«
»Ich dachte, wir könnten uns vielleicht treffen?«
»Ja, natürlich. Ich habe noch Ferien. Ich bin Lehrerin.«
»Wie wär’s heute Nachmittag um zwei, in Zoës Wohnung?«
»Zoës Wohnung?«
»Ich habe mir einen Termin für eine
Wohnungsbesichtigung geben lassen.«
»Warum denn das?«
»Ich wollte sie sehen.«
»Sind Sie sicher?« Sie klang skeptisch. Vielleicht hielt sie mich für verrückt.
»Ich wollte einfach etwas über Zoë erfahren.«
»Ich werde da sein.«
Bis zu dem Termin blieben mir noch vier Stunden. An diesem Tag passte eine andere Beamtin auf mich auf, Bernice. Als ich ihr erklärte, dass ich mir kurz vor zwei eine Wohnung in der Holloway Road ansehen wollte, zuckte sie nicht mal mit der Wimper, sondern nickte nur gleichgültig und vermerkte den Termin in dem Notizbuch, das sie mit sich herumtrug. Vielleicht kannte sie Zoës ehemalige Adresse nicht, oder es wurde ihr und allen anderen allmählich zu langweilig, darauf zu warten, dass etwas geschah. Ich ließ mir ein Bad ein, wusch mir die Haare und blieb dann so lange in dem öligen Wasser liegen, bis die Haut an meinen Fingern und Zehen weich und schrumpelig geworden war. Anschließend lackierte ich mir die Zehennägel und schlüpfte in ein Kleid, das ich höchstens ein- oder zweimal getragen hatte. Ich hatte es mir für eine besondere Gelegenheit aufgespart, irgendeine tolle Party, auf der ich meinen nächsten Mr. Right kennen lernen würde, aber inzwischen erschien es mir albern, auf so etwas zu warten. Genauso gut konnte ich es zur Besichtigung von Zoës Wohnung anziehen, für Louise und Guy. Es hatte eine sehr schöne Farbe – einen edlen, blassen Türkiston – und war auf Figur geschnitten, mit kurzen Ärmeln und einem U-Ausschnitt. Als Accessoires wählte ich eine Kette und kleine Ohrringe. Zum Schluss schlüpfte ich in ein paar leichte Sandalen. Fertig. Ich wirkte frisch und schick, als wollte ich zu einem Sommerfest. Wenn es nur so wäre, dachte ich. Um das Bild abzurunden, legte ich ein wenig Lippenstift auf.
Gegen Mittag kam Bernice herein und informierte mich, dass ich Besuch von zwei jungen Männern hätte. Ich spähte aus dem Dielenfenster und sah einen nervösen Josh vor der Tür stehen, neben ihm ein Mann mit dunklen, zerzausten Haaren, der eine schwarze Stoffjacke trug.
Bewaffnet mit einer Schachtel Zigaretten und einem Strauß Blumen, lächelte er die Tür an, in der ich gleich erscheinen würde.
Als ich ein paar Stunden lang der Meinung gewesen war, Morris sei der Killer, hatte ich sein Gesicht als das eines Mörders in Erinnerung gehabt: listig und verschlagen, mit den toten, ausdruckslosen Augen eines Hais. Jetzt stellte ich fest, dass er ziemlich jungenhaft aussah, durchaus attraktiv. Ich fand es ziemlich süß, wie er seinen Blumenstrauß hoch hielt und darauf wartete, mich mit seinem Lächeln zu begrüßen.
»Herein mit euch beiden!«
Josh murmelte etwas und setzte sich in Bewegung.
Dabei stieg er auf seine offenen Schuhbänder, sodass er ins Stolpern geriet. Morris überreichte mir den Blumenstrauß.
»Eigentlich sollte ich Ihnen Blumen schenken, um
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