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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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schafften es immer wieder, mich zu überraschen. Es war, als würden sie Rituale aus einer fremden, exotischen Welt vollziehen, die ich nicht verstand. Einer von ihnen tat oder sagte etwas zu einem der anderen, und ich wusste nie so genau, ob es ein Scherz war oder eine Beleidigung oder vielleicht eine scherzhaft gemeinte Beleidigung, ob das Opfer lachen oder in Rage geraten würde. Fred beispielsweise schien nie etwas Nettes zu Morris zu sagen, sprach aber manchmal von ihm als seinem besten Freund.
    Nun schwiegen plötzlich alle, und ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte. Alle Blicke waren auf Morris gerichtet, der sich blinzelnd mit den Fingern durchs Haar fuhr. Ich hatte immer den Verdacht, dass er das nur tat, um zu demonstrieren, wie beeindruckend lang und dicht es war.
    »Wer kann mir zehn Filme nennen, in denen Briefe vorkommen?«, fragte er.
    »Morris!«, rief ich wütend.
    »Brief einer Unbekannten«, antwortete Graham.
    »Ein Brief an drei Frauen«, sagte Duncan.
    »Der verhängnisvolle Brief.« Dieser Beitrag kam von Fred.
    »Das ist zu einfach«, meinte Morris. »Zehn Filme, in denen Briefe vorkommen, das Wort ›Brief‹ aber nicht im Titel auftaucht.«
    »Wie zum Beispiel?«
    »Na ja … zum Beispiel Casablanca .«
    »Da kommen keine Briefe vor.«
    »Doch.«
    »Nein.«
    Das ernste Gespräch war vorüber.
    Von da an sparte ich es mir meist, die Briefe überhaupt zu lesen. Bei manchen erkannte ich bereits die Schrift auf dem Umschlag, sodass ich mir gar nicht erst die Mühe machte, sie zu öffnen. Andere überflog ich flüchtig, bevor ich sie zu den anderen in die Pappschachtel warf. Ich fand sie nicht mal mehr lustig. Ein paar waren traurig, ein paar obszön, die meisten einfach langweilig.
    Wenn ich das Bedürfnis hatte, mir den Wahnsinn um mich herum ins Gedächtnis zu rufen, brauchte ich bloß hin und wieder aus meinem Fenster zu schauen, dessen Rahmen langsam vor sich hin rotteten. Dann sah ich junge Männer in verbeulten Autos, die Hand auf der Hupe, das Gesicht rot vor Zorn. Einsame alte Frauen, die auf ihre fahrbaren Einkaufskörbe gelehnt durch die Menge stolperten und dabei leise vor sich hin murmelten. Die nach Pisse und Whisky stinkenden Penner, die in ihren schmutzigen, nicht richtig zugeknöpften Hosen im Eingang des mit Brettern verrammelten Ladens ein paar Türen weiter saßen und den Frauen schräge, lüsterne Blicke zuwarfen.
    Der Wahnsinn kam auch in Gestalt von potenziellen Wohnungskäufern durch meine Tür. Da gab es beispielsweise einen Mann – er war sehr klein, wohl so um die fünfzig, hatte Blumenkohlohren und zog einen Fuß nach –, der darauf bestand, sich auf den Boden zu knien und die Fußleisten abzuklopfen. Ich stand ziemlich blöd daneben und zuckte jedes Mal zusammen, wenn unten aus dem Pub die Bässe der Musik bis herauf in meine Wohnung drangen. Oder die junge Frau, etwa in meinem Alter, mit Dutzenden von Silbersteckern am Ohrrand, die ihre drei riesigen, stinkenden Hunde mit zur Wohnungsbesichtigung brachte. Beim Gedanken daran, wie die Wohnung aussehen würde, nachdem drei Wochen lang diese Meute darin gehaust hätte, wurde mir fast übel.
    Die Räume boten kaum genug Platz für eine Person. Einer der Hunde fraß meine Vitamintabletten vom Tisch, ein anderer legte sich an die Wohnungstür und gab dort entsetzliche Gerüche von sich.
    Die meisten Besucher blieben nur ein paar Minuten, gerade lang genug, um nicht unhöflich zu wirken, ehe sie den Rückzug antraten. Einige wenige hatten kein Problem damit, unhöflich zu sein. Vor allem Pärchen sprachen manchmal laut darüber, was sie von der Wohnung hielten.
    Guy selbst wirkte auf den ersten Blick wie ein etwas normalerer Vertreter der menschlichen Spezies, zumindest solange man ihn nur oberflächlich kannte, aber auf Grund seiner Unfähigkeit, meine Wohnung zu verkaufen, wurden wir mit der Zeit so etwas wie alte Bekannte. Immer schick gekleidet, besaß er eine Vielzahl von Anzügen und farbenfrohen Krawatten, von denen einige mit Zeichentrickfiguren bedruckt waren. Egal, wie heiß es war, er schwitzte nie oder höchstens auf diskrete Art, in Form eines einzelnen Schweißtropfens, der ihm dezent über die Wange lief. Er roch stets nach Rasierwasser und einer frischen Mundspülung. Man hätte meinen sollen, er würde meine Wohnung mit der Zeit als Symbol seines Scheiterns betrachten und daher meiden. Hinzu kam, dass ja wirklich kein Fachmann nötig war, um die Leute herumzuführen. Trotzdem kam er jedes Mal mit,

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